Als die fünfzehnjährige Rachel (Kate Bell) nach dem Balletttraining nicht nach Hause zurückkehrt, alarmieren die besorgten Eltern (Guy Pearce, Miranda Otto) die Polizei. Doch diese betrachtet die Angelegenheit als lästiges Übel – es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ein wohl behütetes Vorstadtmädchen sich etwas verspäten würde. Also machen sich die verzweifelten Eltern selbst auf die Suche. Rachels ehemaliges Kindermädchen Caroline (Ruth Bradley) gerät dabei immer mehr in Verdacht.
Simone Norths engagiertes Regiedebüt weiß auf mehreren Ebenen zu überzeugen. Schon im Vorspann zieht eine freischwebende Kamera, die in Pendelbewegungen erst über einen Feldweg gleitet, dann über ein Feld, ins Gegenlicht schießt, sich schließlich einschwingt am Boden, im Wald, über einem Tierfriedhof, den Zuschauer in den Film hinein. Toshiaki Toyodas „Kuchu Teien/The Hanging Garden“ (2005) kommt einem da in den Sinn, denn auch dort schwingt die Kamera wie auf einer Schaukel und Überkopf durch den Vorspann, und zeigt so bereits an, dass die verlässlich festen Koordinaten des Alltags ausgehebelt sind. Hier ist einiges, wenn auch in sanfte Elegie gekleidet, nicht in Ordnung. Die Regisseurin wählt die horizontale Bewegung, als ob sie mit der Kamera einen Tatort abschreiten würde, was sofort Spannung hervorriefe, wäre die Szene nicht mit dem kontraproduktiven Postgrunge-Sound einer Independentband unterlegt. Gleich darauf wird auf eine Ballett-Tanzszene geschnitten, in der Rachel mit ihrem Partner eine ausdrucksstarke, sexuell aufgeladene Vorstellung gibt. Die Szene kulminiert in einem harten Schnitt zu einem paradiesischen Waldbett im Garten Eden, auf dem die beiden Liebenden nackt aufeinander liegen. Plötzlich regnen Sterne vom Himmel, sanfte Berührungen perfekter, alabastener Körper. Was dem Zuschauer über die emotionale Disposition des Paares gesagt werden soll und worin der metaphorische Gehalt des Tanzes liegt, dürfte nun jedem klar geworden sein.
Die Schauspielerleistungen in „I Am You“ sind gleichwohl tadellos zu nennen. Es sei noch Sam Neills souveräne Darstellung von Carolines Vater erwähnt: Ein Mann, ganz Rationalist, der immer wieder verzweifelt und mit Unverständnis auf das merkwürdige Gebaren seiner psychisch labilen Tochter reagiert. Diese nämlich ist, seit sie denken kann, unglücklich mit ihrem Leben: übergewichtig, faul und hässlich findet sie sich. Und so ist ihr die Nachbarstochter Rachel, der Augenstern der Familie Barber, die selbst Carolines Mutter mit ihren graziösen Tanzvorstellungen zu betören weiß – hier leistet sich der Film eine peinliche Oppositionsmontage – ein Dorn im Auge. Gegen wen also sollen sich Carolines Aggressionen richten, wenn nicht gegen die von allen geliebte, schöne und schlanke Nachbarstochter? Die Spannung des Filmes speist sich fortan aus der detektivischen Aufklärungsarbeit der immer panischer werdenden Eltern, wobei mehrfach irreale, träumerische Assoziationsszenen dazwischen montiert werden. Auch die Tonspur nähert sich bisweilen sehr den subjektiven Wahrnehmungen der Figuren an, was zu interessanten Bild-/Tonscheren führt. Letztlich aber werden auch diese tollen Momente oft durch allzu simple und naive Monologe der Täterin, die hier mehrfach als Erzählerin aus dem Off auftritt, kaputt gemacht. Es sind die Einträge in ihr Tagebuch, die man zu hören bekommt.
Das Verschwinden der Rachel Barber zählt zu den Aufsehen erregendsten Mordfällen in der jüngeren Geschichte Australiens. Simone Norths Film rührt daher mit seinem Anspruch auf Authentizität an ein sensibles Thema, das mit einigen Schwächen in einen Spielfilm überführt wurde, der dennoch immer wieder mit schönen Bildkompositionen, einer spannenden Narration und guten Darstellern zu überzeugen weiß. Auf Simone Norths nächsten Film darf man gespannt sein.