Cheyenne – This Must Be the Place

(I / F / IR 2011; Regie: Paolo Sorrentino)

Popstar auf Nazijagd

Wenn man diesen Film sieht, sieht man eine Menge Filme. Hört eine Menge Musik. Trifft eine Menge Stars der Musikgeschichte. Denn Paolo Sorrentinos Film enthält eine Menge der Mythen, Motive, Mittel der Popkultur der letzten paar Jahrzehnte; und er lässt dabei seinen Film alles andere als ein Setzkastensammelsurium oder ein epigonisches Hommagekino sein.

Dass Sorrentino zwei Stories verknüpft, ist das eine: Die eines gealterten, pensionierten Rockstars der 80er, der nun in Depression und Langeweile dem ewigen Nichtstun frönt; und die von der Jagd nach einem alten Nazi durch halb USA. Dass Sorrentino Sean Penn in der Hauptrolle bietet, ist das andere. Der spielt seinen Cheyenne, als wäre der leibhaftige Johnny Depp hinter ihm her – und lässt dabei alle aufdringlichen Manierismen fallen, um eine unglaublich exzentrische, exaltierte, kaprizöse Darstellung zu erreichen, die durchaus auf dem Boden der Tatsachen steht. Ozzy Osbourne schlurfte durch seine MTV-Show auf ganz ähnliche Weise, tapsig, ungelenk, lethargisch … Schwarzer Zehenlack, Ringe, rotgeschminkte Lippen, Lidschatten, schwarzes, hochtoupiertes Haar; dazu eine hochgepitchte Stimme, als hätte er Kreide gefressen, ein schwarzes Wägelchen, das er stets hinter sich herzieht, völlige Teilnahmslosigkeit, die gepflegte Langeweile dessen, der niemals mehr arbeiten muss, ein passives Sich-durchs-Leben-treiben-lassen, und zugleich eine Art zaghaftes Bemühen, doch irgendwo dabeizusein, dem freilich wirklicher innerer Impuls fehlt: Das ist Cheyenne, bis vor 20 Jahren Leadsänger einer 80er-Jahre-Gothic-Pop-Band, der nun in einem schlossähnlichen Anwesen hockt und nichts mehr tut; nicht einmal das Leben genießen.

Jane, seine Frau, ist Frances MacDormand, sie hat das Heft in der Hand, kümmert sich um Haus und Hund, neckt Cheyenne, zieht ihn auf, spielt mit ihm Hand-Pejote im leeren Pool im Garten. Wenn einer fragt, wo das Wasser ist, staunt Cheyenne, als hätte er das noch nie bemerkt. Warum sein Hund einen Kragen der Schande um den Hals hängt – darum kümmert sich Jane. Warum sie den Architekten angewiesen hat, in der Küche des schlossartigen Anwesens groß „CUISINE“ an die Wand zu schreiben – keine Antwort.

Cheyenne: Das ist eine Kombination verschiedener Popkünstler, die Sorrentino in seiner Kindheit begleiteten, Robert Smith von The Cure, Morrissey von The Smiths, David Byrne von den Talking Heads – letzterer hatte nicht nur einen Song geschrieben, der dem Film seinen Titel gab, er hat nun auch den Soundtrack komponiert und spielt in einer Szene sich selbst: Cheyenne trifft seinen alten Freund und Kollegen David, der fiktive den tatsächlichen Künstler. Die feinen, artifiziell wirkenden Stimmen der beiden ähneln sich auf durchaus komische Weise, und hier zeigt Cheyenne erstmals Emotionen, lässt sein Innerstes raus. In einem Ausbruch des Auskotzens beklagt er sich und sein Schicksal, hier, in Gegenwart eines Mannes, den er als wirklichen Künstler anerkennt, im Gegensatz zu ihm, der nur ein paar Hits geschrieben hat, der die Depression pubertärer Jugend in Songs gegossen hat, um damit viel Geld zu machen …

In Momenten wie diesem wird Sorrentino richtig ernst, geht ins Existentielle des Künstler- und Menschendaseins hinein: Cheyenne sitzt in seinem Zustand apathischer Depression, seit sich 20 Jahre zuvor ein paar Teenager von seiner traurigen Musik anstecken und zum Suizid haben anstacheln lassen … Doch versinkt der Film selbst nie in dem bloßen Porträt eines abgewrackten Rockstars, das geht gar nicht, wenn Sean Penn im Mittelpunkt steht, und auch nicht auf diese Weise. Wie er ungelenk in Unterhosen auf dem Sofa sitzt; wie er die Welt an sich vorbeigleiten lässt; wie er andere auflaufen lässt; wie er immer wieder Weisheiten von sich gibt, die naiv sein können wie von einem altklugen Kind oder aber weise Aphorismen des lebenserfahrenen Herrn sind: „Vom Hafen sieht man nie, wie rau die See ist“; oder: „Das ist das Problem der Jugend: Ablenkung“; oder: „Zuerst heißt es im Leben: so wird mein Leben sein. Später dann: So ist das Leben.“

Sorrentino zeigt keine schwermütige Musikerbiographie; und im zweiten Teil keine heißblütige Jagd nach einem Altnazi. Nach dem Tod seines Vaters, mit dem Cheyenne nie etwas zu tun hatte, macht dieser sich auf, dessen Lebenswerk zu vollenden: den Mann zu finden, der ihn damals im polnischen KZ gequält und gedemütigt hat. Was Cheyenne für seinen verstorbenen Vater tut, tut er eigentlich für sich selbst: Ja, es macht ihm Spaß, mal rauszukommen, eine Aufgabe zu haben.

Wenn im Hintergrund wie bei jedem Roadmovie die Selbstfindung – oder zumindest die Selbstsuche – steht, so ist doch für Sorrentino ein zumindest ebenbürtiger Teil seiner Filmerzählung der skurrile Witz, den er einflicht. Und er bleibt da nicht nur bei dem Sean-Penn-Porträt eines bizarren Relikts aus vergangenen Popjahrzehnten, nein: die ganze Welt, die der Film zeigt, hat Symptome des leichten, komischen Irrsinns. Nachts läuft ein älterer, dicklicher Herr in Superheldenkostüm nach Hause; ein alter Mann mit Hitlerbärtchen fährt aufrecht stehend auf der Ladefläche eines Pickuptrucks vorbei. Cheyenne begegnet allen möglichen Typen – einem Investmentbanker, für den das größte Problem die Parkgebühren in New York sind; einem tatooübersäten Kneipenhocker mit sanftem Herzen; einem passionierten alten jüdischen Nazijäger, den vor allem der Verbleib all der Goldzähne fuchst, die die Nazis zusammengehortet haben; einem Waffenladenbesitzer, der in den Menschen Monster sieht; und einen älteren Herrn, der über die Rollen an Trolley-Koffer sinniert – die er 1988 selbst erfunden hat … Wir geraten hier nahe an Jarmusch- oder Kaurismäki-Bereiche der seltsamen Komik, die nicht weit entfernt ist von einer Poetik des Losertums. Selbst der alte, 94jährige Nazi, der nichts bereut, hält eine berührende, erklärende Rede – er lebt in einer Holzhütte mitten im grellweißen Schnee, eines dieser Bilder, mit denen Sorrentino auf perfekte Weise die seltsam artifizielle, fast surreale, raffiniert gestaltete Atmosphäre des Films erzeugt.

Wahrscheinlich ist dies einer der letzten Filme, die eine zeitgenössische Jagd auf einen Nazi zeigen – schlicht, weil die halt irgendwann auch aussterben. Und es ist deshalb genau richtig, mehr zu zeigen als das – denn wie die alten Nazis wegsterben, muss und wird auch die Wut, die unbedingte emotionale Qual der Erinnerung und der Recherche sich abschwächen (freilich ohne das Andenken an die Entsetzlichkeit der Naziverbrechen auszutilgen). „Uns schwirrte die Antithese eines herkömmlichen Detektivs im Kopf herum“, sagt Sorrentino, „ein langsamer, fauler Rockstar, der der absolut letzte Mensch ist, von dem man sich vorstellen könne, dass er sich auf so etwas verrücktes wie die Jagd nach einem Naziverbrecher, der vielleicht schon tot ist, quer durch die USA einlässt.“ Diese Verbindung verschiedener (Lebens)Welten hat etwas Zwingendes in diesem Film, gerade, weil sie gar nicht zueinander passen. Und zwingend ist auch, dass diese Geschichte mit Witz, mit Ironie, mit grotesken Ideen gefüttert ist, dass sie in den Grad des Unwirklichen erhoben wird – denn nur so kann sie eine so wunderbare, komische Unterhaltung bieten. „Der Tragödie aller Tragödien, dem Holocaust, die Welt der Popmusik gegenüber zu stellen, den Inbegriff des Aufgeblasenen, Oberflächlichen und Frivolen, schien mir eine Kombination, die so gefährlich und gewagt ist, dass sich daraus eine interessante Geschichte entwickeln lässt. Eine Geschichte ist es nur dann wert, erzählt zu werden, wenn die Gefahr besteht, dass man sie in den Sand setzt, dass man daran scheitert.“ Was nicht geschehen ist.

Benotung des Films :

Harald Mühlbeyer
Cheyenne – This Must Be the Place
(This Must Be the Place)
Italien / Frankreich / Irland 2011 - 118 min.
Regie: Paolo Sorrentino - Drehbuch: Paolo Sorrentino, Umberto Contarello - Produktion: Francesca Cima, Nicola Giuliano, Andrea Aocchipinti - Bildgestaltung: Luca Bigazzi - Montage: Cristiano Travaglioli - Musik: David Byrne, Will Oldham - Verleih: Delphie - Besetzung: Sean Penn, Frances McDormand, Judd Hirsch, Eve Hewson, Kerry Condon, Harry Dean Stanton, David Byrne
Kinostart (D): 10.11.2011

DVD-Starttermin (D): 02.10.2015

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1440345/