La Promesse – Das Versprechen

(B / F / LU 1996; Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Sterben für die Marktwirtschaft

Im Titel schon enthalten: Die moralische Qualität des Inhalts. Wie in allen ihren Spielfilmen erzählen die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne auch in „La Promesse“ von ökonomischen Zwängen, von den Bedingtheiten und Wertigkeiten, die sie zur Folge haben und von – wie soll man es ausdrücken, ohne altmodisch zu klingen? – einem in der Menschheit schlummernden Rest Menschlichkeit, einem unterentwickelten aber entwicklungsfähigen Gewissen, einem Sinn für Verantwortung und einem Bedürfnis nach Freundschaft und Solidarität, dem immer weniger hinterfragten Gebot wirtschaftlichen Wettbewerbs und Einzelkämpferdenkens zum Trotz.

Und die belgischen Regisseure machen es dieser Moral wahrlich nicht leicht. Sie muss von den meist jugendlichen Protagonisten ihrer Filme quasi aus dem Nichts erfunden werden. Jugendliche, die zunächst nichts anderes tun – und tun wollen -, als nach den Regeln zu handeln, die ihnen durch die Erwachsenenwelt vorgegeben sind, stellen fest, dass bestimmende Parameter des konventionellen Miteinanders vielleicht profitmaximierend, aber in ihrer letzten Konsequenz auch mörderisch sein können.

Auch Igor in „La Promesse“ ist einer dieser Jugendlichen. Früh schon wird er von seinem Vater Roger zum Kompagnon gemacht. Der Betrieb: Einschleusung von Migranten, ihre illegale Unterbringung in Bruchbuden zu horrend überteuerten Mieten, Vermittlung von Schwarzarbeit oder Beschäftigung zu Hungerlöhnen auf der familieneigenen Baustelle. Wir werden Zeugen eines professionellen Ausnützens der Notlage von etwa zwei Dutzend Flüchtlingen, ausgehend von jemandem, der sich – weder durch seine Wohnung noch durch sein Äußeres – kaum von ihnen unterscheidet, der vielleicht, wir erfahren es nicht, selbst vor nicht langer Zeit arbeitslos war, aber einen Riecher für neue Trends im Dienstleistungsbereich besaß. Roger ist also das, was man heute (zynisch) einen „Macher“ nennen könnte, denn er macht ja im kleinen Stil nur das nach, was die Multis im großen tun: Er bedient sich illegaler, vor allem aber unmoralischer Methoden, um Gewinne zu erzielen.

Igor, dem halben Kind (Jérémie Renier mit dem Charme und Aussehen eines blonden Jean-Pierre Léaud), gefällt dieses fröhliche Ausbeuten, diese im Kleinen ausgeprägte Variation des globalen freien Marktes, offensichtlich gut, denn ihm wird früh viel Verantwortung übertragen und er kann sich erwachsen und seinem Vater (stets großartig: Olivier Gourmet), den er bewundert, gleichwertig fühlen. Bei jeder wichtigen Aktion ist er dabei. Igor sammelt Gelder ein, er ist Mädchen für alles und er verdient dabei gut. Regelmäßig holt ihn sein Vater mitten aus seiner Lehre in der KFZ-Werkstatt, um ihm wichtigere Aufgaben zu übertragen. Auf diese Art lernt der Junge sukzessive, dass Flexibilität, Erfindungsgeist und ein gewisser Mangel an Skrupeln in Zeiten des Neoliberalismus gewinnbringender sind als eine „ordentliche Ausbildung“, mit der man dann doch vermutlich arbeitslos sein wird (eine Philosophie, nach der übrigens genauso Igors Alter Ego Bruno [ebenso gespielt von Jérémie Renier] im Dardennes-Film „L’enfant“ [2005] lebt und handelt) …

Gezeigt wird uns das alles – übrigens sehr unmittelbar und ohne eine viel erklärende Einleitung – von einer ruhelosen, unwissenden, also auch nicht urteilenden, Kamera: getriebene Menschen aus der rauen Vorstadt Seraing bei Lüttich, einer Arbeitergegend – als es dort noch Arbeit gab. Weißer Trash also, der nun mit schwarzem Trash sein finanzielles Auskommen findet. So authentisch die Kulissen, so organisch hinein passen die Figuren, von denen „La Promesse“ erzählt. Mit ihrer Nähe zum Dokumentarfilm folgten Jean-Pierre und Luc Dardenne im Jahr 1996 weniger der Dogma 95-Mode als ihren eigenen Wurzeln. Denn aus Seraing stammend, hatten die 1951 und 1954 geborenen Regisseure bereits in den Achtzigern mehrere Dokumentarfilme über das Leben der dort ansässigen Arbeiterschicht gedreht, bis zur Erkenntnis, dass die Wirklichkeit das Dokumentarische manchmal scheut. Mit ihrer Inszenierung ortsüblicher Realitäten wechselten sie also zum Spielfilm, der vorgefundene Sachverhalte, ökonomische, soziale, menschliche Verhältnisse nachspielt, fiktionalisiert und dadurch vielleicht dem, was die Seraing-Chronisten erklärtermaßen suchen, nämlich der „dokumentarischen Wahrheit“, näher kommt, als der teilnehmend beobachtende Dokumentarfilm. Jedenfalls atmen die Spielfilme der Dardennes so viel Erfahrung, Kenntnis und Beobachtungsgabe, dass sie einerseits wie komprimiertere Dokumentationen erscheinen, wie Dokus ohne observierende Dokumentaristen gewissermaßen, in ihrer Form aber sind sie nichts weniger als reine klassische Dramen.

Ein Teil der Darsteller, in „La Promesse“ wie in den anderen Filmen der Dardennes, bestand aus nichtprofessionellen und unbekannten Schauspielern, bei denen es darauf ankam, dass sie nicht mit ihren Schauspieler-Standards spielten, sondern als vorbildlose, unverbrauchte, unbekannte „Körper“ und „Gesichter“, wie die Regisseure es ausdrücken, agierten. Tatsächlich sucht die Originalität des Films vor allem wegen der Differenziertheit in der Figurenzeichnung ihresgleichen. Ein einfaches Feindbild fehlt hier, es gibt keinen ausgemacht schlechten oder guten Menschen, aber trotzdem zeichnet sich so etwas ab wie richtig und falsch, menschlich und unmenschlich (was, wie im griechischen Drama aber auch wie im Entwicklungsroman, zu unterscheiden dem jungen Protagonisten aufgetragen ist). Und es fehlt die Stimulation des Nervensystems durch Szenenmusik, durch aufdringliche dramatische Effekte. Der entsetzlichste Moment des Films, als, nachdem einer der Flüchtlinge kurz vor einer Polizei-Razzia vom Baugerüst gefallen ist und nun schwer verletzt auf dem Boden liegt, Igors Vater entscheidet, ihn lieber verbluten zu lassen, als seinen Betrieb zu gefährden, wird mit eben jener dokumentarisch-nüchternen Genauigkeit registriert, die jeder hollywoodesken Dramaturgie widerspricht:
Igor hat den vom Gerüst gefallenen Afrikaner Amidou (Rasmane Ouedraogo) zuerst gefunden. Er verspricht ihm, egal was passiert, sich um seine Frau und sein Baby zu kümmern. Er versucht, das stark blutende Bein abzubinden, aber sein Vater löst den Gürtel wieder. Roger geht auch nicht auf den Vorschlag ein, Amidou als Autounfallopfer auszugeben und ins Krankenhaus zu bringen. Bevor die Polizei kommt, legt er eine Plane über den Bewusstlosen, darauf ein paar Bretter. Später wird Amidous Körper in ein Loch gelegt und mit flüssigem Zement übergossen. Igor muss Roger dabei helfen. Der Film zeigt Amidous Sterben nicht, man weiß nicht einmal, ob er zum Zeitpunkt seiner Einzementierung wirklich schon tot ist oder ob er gar lebendig begraben wird.

Die Sachlichkeit, mit der dieser Tötungsakt gezeigt wird, beinahe als sei er eine weitere Tagesroutine, aber macht das Unerträgliche erst wirklich unerträglich. Denn der Zuschauer wird nicht, wie üblich, durch elegische Musik darin bestärkt, dass Trauer oder Empörung angemessene Reaktionen wären, ihm wird kein Affektmuster angeboten, er wird nicht an der Hand genommen und niemand anderes erklärt ihm, was er sieht, bzw. zu sehen und wie er es zu interpretieren habe. Die Zumutung dieser Sterbeszene liegt in der Abwesenheit eines Kommentars und in der Übertragung der Beurteilung des Gesehehen auf den Zuschauer.

Und sie liegt in ihrer Übertragbarkeit auf weiße Flecken in der europäischen Politik und Gesellschaft. Dass es illegale Flüchtlinge bei uns gibt, weiß jeder, dass sie z.T. unter schlimmen Bedingungen leben (oder sterben) müssen, auch, aber die wenigsten wollen sich damit beschäftigen. So funktioniert der Tod des Afrikaners also als eine Metapher für das buchstäbliche Wegsehen, für ein Unter-den-Tisch-kehren, fürs Lebendig-Begrabensein illegaler Existenzen und zugleich für den Wert eines Menschen, der allzu oft zusammen mit seiner Kauf- und Arbeitskraft erlischt.

Igor erfährt die Regeln dieses Spiels von ganz nah und von innen heraus. Er gehört zum mächtigen Teil des Systems, das heißt, er ist der Kronprinz und wird vom Vater-König in die Rituale des Trinkens, Tätowierens, Herrschens eingeführt. Dem mal jähzornigen und mal herzlichen Roger kann Igors Mannwerdung nicht schnell genug gehen, vielleicht wünscht er für sich auch nur einen Blutsbruder, einen Verbündeten, denn auch sein Leben ist das eines einsamen Kämpfers. Igor selbst möchte am Liebsten mit seinen Kinder-Freunden zum Go-Cart-Rennen, doch dazu bleibt ihm keine Zeit.

Aus Igor wird vielleicht nicht das, was Roger einen „Mann“ nennen würde, aber er lernt es, die Perspektive zu wechseln. Im Moment, als er dem sterbenden Afrikaner verspricht, sich um seine Familie zu kümmern, beginnt stattdessen so etwas wie eine Menschwerdung. Die aber führt ihn wiederum zum Bruch mit einer falschen Ideologie. Einer Ideologie, die, indem sie das Materielle höher bewertet als das Leben, zwangsläufig und immer wieder über Leichen geht.

„La Promesse“ (der übrigens natürlich nichts mit Sean Penns Film „Das Versprechen“ von 2001 zu tun hat) ist in Deutschland skandalöserweise immer noch nicht auf DVD erschienen, aber in einer Box gemeinsam mit dem Gewinner der Goldenen Palme „Rosetta“ als UK-Import beziehbar. Falsch machen kann man mit dem Kauf dieser Box rein gar nichts! Doch wann gibt es endlich deutsche Editionen beider Filme?

Benotung des Films :

Andreas Thomas
La Promesse - Das Versprechen
(La Promesse)
Belgien / Frankreich / Luxemburg 1996 - 93 min.
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne - Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Léon Michaux, Alphonso Badolo - Produktion: Véronique Marit, Hassen Daldoul - Bildgestaltung: Alain Marcoen, Benoît Dervaux - Montage: Marie-Hélène Dozo - Musik: Jean-Marie Billy, Denis M'Punga - Verleih: Peripher - Besetzung: Jérémie Rénier, Olivier Gourmet, Assita Ouedraogo, Frédéric Bodson, Florian Delain, Hachemi Haddad, Sophie Leboutte, Rasmane Ouedraogo
Kinostart (D): 30.11.-0001

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0117398/