Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film

(USA / GB 1995; Regie: Martin Scorsese, Michael Henry Wilson)

Blockbuster vs. Bilderstürmer

Welcher ist wohl Martin Scorseses zurzeit (Stand: August 2011) beliebtester Film? Die Antwort der Leserschaft der berühmten Internet Movie Database lautet nicht: „The Aviator“, nicht „Taxi Driver“ und auch nicht „Raging Bull“. Mit einer Durchschnittsnote von 8,7 von 10 möglichen Punkten rangiert eine bereits über zehn Jahre alte TV-Dokumentation Scorseses mit dem langen Titel „A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies“, ein Film, der vor über zehn Jahren einmal bei Arte zu sehen war, sogar noch vor seinem bis dahin all-time-favourite „Goodfellas“.

Eine Spitzenposition in den IMDb-Charts sollte nun nicht der einzige Grund sein, sich mit dem beinahe 4-stündigen Film-Essay bekannt zu machen, muss es auch nicht, weil sich das Werk am besten selbst empfiehlt. „Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film“ macht offenbar nicht nur Filmgeschichte, der Film erzählt auch von ihr (d.h. Scorsese schwärmt, beschwört, begeistert sich, analysiert, mit unermüdlicher Faszination), der Geschichte des US-amerikanischen Films, von Hollywood, und das auf jene kenntnisreiche und besessene Art eines Kino-Süchtigen, dessen einziges Entzugsmittel immer nur, wie er sagt: „noch mehr Kino“ hieß.

An den Anfang des 225-minütigen Werks stellt Scorsese bezugsreich Minnellis „Stadt der Illusionen“, den „emblematischen Film über die halluzinatorische Kraft des Films“, dessen Thema, die Maschinerie Hollywood, für Scorsese immer auch vom Gegenüber „Kunst gegen Kommerzialität“ durch die Reibung zwischen Regie und Produktion geprägt ist. Im Konflikt zwischen Regisseur und Produzent erkennt Scorsese einen „ewigen Streit“, ein fortwährendes Kräftemessen, das basal ist für die Hollywood-Geschichte. Von diesem roten Faden geht er in seiner „Reise“ aus, zu ihm kehrt er immer wieder zurück, um ihn herum ist die nicht chronologische Dokumentation gebaut, die vom „Dilemma der Regisseure“ handelt, einen Weg zwischen Experiment und Anpassung finden zu müssen. Scorsese vollzieht verschiedene dieser Wege und Lösungen plastisch nach:

Mit D.W. Griffiths „The Birth of a Nation“ von 1915, so Scorsese, wurde das Kino erwachsen und etablierte sich zum Kunstwerk. Seine Stärke ist die „Sprache der Bilder“, die „visuelle Grammatik“ und der Film ist Initialzündung für das „Monumentalkino“, für die „historischen Dramen, die nur dann den Zuschauer erreichen, solange sie mit Einzelschicksalen verknüpft sind“. In dieser Tradition sieht Scorsese (bescheiden) auch sein „Gangs of New York“.

Wie „der Regisseur als Geschichtenerzähler“ immer auch die amerikanische Geschichte miterzählt, macht Scorsese deutlich, wenn er die Film-Genres behandelt. Die drei Hauptstränge amerikanischer Kultur finden sich in der Genres wieder: In den Western die Konflikte der Grenzgebiete, im Gangsterfilm die Geschichte der Städte der Ostküste, in den Musicals der Einfluss des Broadways. Diese drei Genres, so Scorsese, seien bestimmend für das amerikanische Kino und ihre immer wieder neu und raffiniert variierende Vermischung machen „den Reiz Hollywoods“ aus. Das Faszinierende der mit vielen Filmausschnitten (auch aus Scorseses kostbarem und umfangreichen privaten Filmarchiv) illustrierten „Reise“ verstärkt sich, wenn man ein wenig bewandert ist in Scorseses Werk, und er weist sehr erhellend darauf hin, gerade für den filmhistorisch nicht sattelfesten Filmfreund, dass etwa „Goodfellas“ sich an Filmen wie „Die wilden Zwanziger“ (Walsh) oder „Scarface“ (Hawks) orientiert. Wenn Scorsese feststellt, wie „in der Nachkriegszeit die Gangsterbande ein Konzern und die ganze Gesellschaft korrupt geworden“ ist und das Individuum gegen das System keine Chance mehr hat, dann befinden wir uns sowohl in der Historie Amerikas und Hollywoods als auch in der Wahrnehmungswelt des Sohnes italienischer Einwanderer und Katholiken Scorsese.

Auch am Western interessiert Scorsese der Wandel vom „Klischee des guten Helden hin zur Ununterscheidbarkeit von Held und Schurken“ (Beispiel: „Der schwarze Falke', Ford) und „seine Verstrickung in die Zwänge einer gewalttätigen Welt“; die Schuldverstrickung, natürlich ein Grundthema des Regisseurs, der beinahe Priester geworden wäre.

Wie wir wissen hat Scorsese sich auch – mit umstrittenem Erfolg – an das Musical gewagt. Aber wer hätte gedacht, dass „New York, New York“ sich am Vorbild „Mein Traum bist du“ (1948) von Michael Curtiz mit Doris Day orientierte? „Die auch im Musical sichtbaren, dunkel gefärbten Strömungen des Nachkriegskinos, Geschichten, in denen private Beziehungen den Karrieren geopfert werden“, empfindet Scorsese als signifkant für ihre Zeit.

Aber Scorsese widmet sich auch den technischen Aspekten des Kinos. Er reserviert ein Kapitel für den Neubeginn durch den Tonfilm, er zeigt, wie die Farbe und das Cinemascope-Format dem Historien-Film (Initialzündung „Das Gewand“) und dem Western eine neue Entwicklungsform bereit stellte (und so alleine die Filmtechnik neue Genres erschuf). Er beschäftigt sich mit der Frage, ob, im digitalen Zeitalter, mit dem Ende des Monumentalkinos auch das Ende des epischen Kinos, gar der Filmkunst, gekommen sei, weist aber darauf hin, dass auch Kubricks „2001“ schon mit digitalen Effekten arbeitete und dennoch, wie Griffiths „Intolerance“ oder Murnaus „Sunrise“, alles zugleich sein konnte: „Superproduktion, Experimentalfilm und visionäres Gedicht.“

Ob Kino also auch Kunst sein (und bleiben) kann, ist für Scorsese immer zuerst eine Frage nach der kreativen Intention der Regisseure, und nach ihren Fähigkeiten, ihre Kunst, ihre Visionen oder auch – in politisch finsteren Zeiten – ihre versteckte Gesellschaftskritik auf die Leinwände zu „schmuggeln“. Gerade Filme mit weniger Geld haben dafür mehr Freiheiten. Als Beispiel nennt Scorsese (und zeigt er Aussschnitte aus) Jacques Tourneurs „Katzenmenschen“, ein B-Movie, das „für die Entwicklung eines reiferen Kinos so wichtig war, wie ‚Citizen Kane’“.

Ein Kapitel über den Film noir setzt Scorsese erst in den zweiten seiner drei „Reisefilm“-Abschnitte, wohl weil seine Klassifizierung als Genre immer umstritten war. Am Film noir interessiert Scorsese vor allem der Topos, dass darin das „Verbrechen nicht mehr Domäne der Unterwelt ist, sondern jeder ein potentieller Verbrecher“. Ein Beispiel für Scorseses vielfältige Recherchen ist ein prägnanter Fritz-Lang-Interviewausschnitt (Scorsese sammelte Interviews aus Archiven und führte selbst Interviews, sodass in seinem Film zu Worte kommen: Kathryn Bigelow, Frank Capra, John Cassavetes, Francis Ford Coppola, Brian De Palma, André De Toth, Clint Eastwood, John Ford, Samuel Fuller, Howard Hawks, Elia Kazan, Fritz Lang, George Lucas, Gregory Peck, Arthur Penn, Nicholas Ray, Douglas Sirk, King Vidor, Orson Welles, Billy Wilder) mit dem Satz: „Gewalt ist endgültig Bestandteil von Drehbüchern geworden“ und der Feststellung: „Die Furcht vorm Teufel ist durch die Furcht vor dem physischen Schmerz abgelöst worden.“ Vielleicht lässt sich die Grundthematik des Film noir mit Scorseses Worten charakterisieren: „Es gibt keinen moralischen Kompass mehr.“ Freimütig übrigens gesteht der Verfasser dieser Zeilen, dass ihm die von Scorsese gelieferte ursprüngliche Herkunft des Begriffs „Film noir“ „US-Filme, die bis 1946 in Frankreich verboten waren“, bisher neu war.

Im letzten und dritten Teil seiner Dokumentation, die sich zunächst mit der McCarthy-Ära beschäftigt, erläutert Scorsese genauer, wie er den „Regisseur als Schmuggler“ verstanden haben will; und er illustriert mit Filmausschnitten von Douglas Sirk, Nicholas Ray oder Samuel Fuller, wie gerade in Zeiten gesellschaftlicher Repression eine faszinierende Ära des amerikanischen Kinos anbrechen konnte, weil es unter dem Druck der Zensur neue und subtilere Wege gehen musste, um Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Ray („… denn sie wissen nicht, was sie tun“) und Sirk („Was der Himmel erlaubt“) spezialisierten sich auf auf den Einsatz des Melodrams, um die „Americana“ zur entlarven. Die beengte Kleinstadtatmosphäre stand dabei für die Stimmung im ganzen Land. Und Samuel Fullers Themen Scheinheiligkeit und Patriotismus fanden ihren filmischen Höhepunkt in „Schock-Korridor“, der kaum verklausuliert den Kalten Krieg und den amerikanischen Rassismus anprangerte, so der überzeugende Tenor Scorseses.

Den „Schmugglern“ gegenüber stellt er die offenen Anklagen der „Bilderstürmer“, die es – bei Griffith („Gebrochene Blüten“) angefangen – schon immer in Hollywood gab. Dazu zählt er Stroheim, von Sternberg, Chaplins „Der große Diktator“ oder Kazans „Endstation Sehnsucht“. Als „vermutlich größten Bilderstürmer Hollywoods“ bezeichnet er den 25-jährigen Orson Welles mit dessen „Citizen Kane“.

Je weiter sich Scorsese mit den Bilderstürmern beschäftigt, desto begeisterter wirkt er. Er berichtet, wie er mit zwölf Jahren zum ersten Mal Kazans „Die Faust im Nacken“ sah und Brandos „neue Art zu spielen“ für ihn eine „Offenbarung“ war. Kazans Stil scheint ihm maßgeblicher Wegbereiter für die „Bilderstürmer der 50er und 60 Jahre“: Robert Aldrich, Richard Brooks, Robert Rossen, Billy Wilder, Arthur Penn, Sam Peckinpah. Er hebt hervor: Premingers „Der Mann mit dem goldenen Arm“ mit dem gewagten Thema Heroinsucht, Wilders „Eins zwei drei“ mit seinem verschärften Humor und Penns „Bonnie und Clyde“, der zusammen mit Peckinpahs „The Wild Bunch“ der letzte „Sargnagel“ des „Production Code“, der offenen Zensur in Hollywood, bedeutete. Eine Sonderbezeichnung erhält John Cassavetes von Scorsese. Seine Filme seien „Epen der Seele“ und ihr Regisseur der „Guerillero der Filmemacher“. Respektvoll schwärmt er von Kubricks Filmen und besonders seinem „Barry Lyndon”. „Oberflächlich kühl und abweisend, ist er doch einer der gefühlvollsten Filme, die ich je gesehen habe!“

Bereits 25 Jahre vor der Produktion dieses seines Film-Essays, beim Jahr 1970, schließlich stoppt Scorsese seine Analyse – mit der Begründung, dass er ab hier „selber mitspielt“ und nicht berechtigt sei, über sich und seinen eigenen Einfluss zu sprechen.

Dafür haben wir ungeahnt viel über die Regisseure und die Filme erfahren, die Einfluss auf Scorsese hatten – um festzustellen, dass der profunde Kenner Scorsese das komplette amerikanische Kino in sich aufgesogen hat. Überall in seinem Werk finden sich Merkmale, Elemente, Ideale und Mythen der amerikanischen Filmgeschichte wieder – was zu beweisen war und vom Regisseur selbst bewiesen wurde. „Scorseses Reise …“ lebt von der Faszination des Kinos für den Filmfanatiker, dessen Fanatismus ihn nicht nur zum Regisseur, sondern auch zum Film-Historiker aus Leidenschaft hat werden lassen. Deswegen ist die persönliche Dokumentation aber auch ein Vermächtnis des amerikanischen Films per se geworden. Nicht nur die zu den einzelnen Kapiteln erklingende schöne Titelmusik von Elmer Bernstein gibt einem das Gefühl, in einem schweren, roten Kinosessel einen dieser Filme zu sehen, von denen dieser Film handelt. Denn der Plauderer und der Spurensucher Scorsese, mit seinen irritierend zueinander strebenden Augenbrauen (die sich auch in der Titelgrafik keines Geringeren als Saul Bass wiederfinden), verwandelt einen eloquenten Monolog in ein Schatzkästlein, geöffnet wie von einem Freund, der einen in die Mysterien des Kinos einweiht. Wenn dann Scorseses Schlusswort vom Kino als dem „Bedürfnis des Menschen, eine gemeinsame Erinnerung teilen zu können“ und von der „Suche nach dem kollektiven Unbewussten und nach Spiritualität“ handelt, dann erweist sich, wie viel Katholizismus in seiner Begeisterung steckt. Weil Scorseses Liebe zum Kino religiöser Natur ist, ist seine „Reise“ zugleich Gottesdienst, cineastisches Glaubensbekenntnis, nebenbei die Beichte einer Suchtkarriere, aber vor allem die Dokumentation der amerikanischen Filmgeschichte, welche – wie sagt man so schön? – jeder Filminteressierte unbedingt gesehen haben sollte.

Eine DVD der Originalfassung (mit deutscher Voice over und deutschen Untertiteln) ist einzeln oder als Teil der 7 DVDs umfassenden Gesamtausgabe der Reihe: „Filmgeschichte Weltweit“ bei absolut Medien erschienen.

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Martin Scorseses Reise durch den amerikanischen Film
(A Personal Journey with Martin Scorsese Through American Movies)
USA / Großbritannien 1995 - 225 min.
Regie: Martin Scorsese, Michael Henry Wilson - Drehbuch: Martin Scorsese, Michael Henry Wilson - Produktion: Martin Scorsese, Florence Dauman - Bildgestaltung: Jean-Yves Escoffier - Montage: Thelma Schoonmaker - Musik: Elmer Bernstein - Verleih: absolut Medien - Besetzung:
Kinostart (D): 30.11.-0001

DVD-Starttermin (D): 29.10.2010

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0112120/
Link zum Verleih: http://www.absolutmedien.de/main.php?view=film&id=1418