Wenn Woody Allen nach Lieblingsfilmen aus seinem Oeuvre gefragt wird, nach solchen, mit denen er besonders zufrieden ist, nennt er zuerst „The Purple Rose of Cairo“. Der Film aus dem Jahr 1985 spielt in der Zeit der Depression und ist ein Märchen ohne Happy End, eine Tragödie, in der der Eskapismus keinen Ausweg bietet und selbst ein Wunder nicht aus den bitteren Lebensumständen befreit. Cecilia, gespielt von Mia Farrow, flüchtet sich vor ihrem trostlosen Alltag samt prügelndem Ehemann immer wieder ins Kino, in den gleichen Film, bis die Hauptfigur, der Abenteurer Tom (Jeff Daniels) sie von der Leinwand herab anspricht. Kurz darauf steigt er für sie sogar aus dem Film. Weil die anderen Filmfiguren erbost auf einer Fortführung der Handlung bestehen, die zahlenden Zuschauer sich schlecht unterhalten fühlen und das Hollywood-Studio einen Imageschaden befürchtet, kann die aufkeimende Liebe zwischen Tom und Cecilia nicht glücklich ausgehen. Auch weil Cecilia die falsche Entscheidung trifft und sich für die vermeintlich verlässliche Realität entscheidet: Der Schauspieler Gil, der Tom verkörperte und der sich Cecilia als „reale“ Alternative anbietet, gaukelt ihr Liebe nur vor, um das absurde Spiel zu beenden und seinen Ruf zu schützen.
Warum die Erinnerung an diesen Film? Weil Allens neues Werk wieder die für ihn so typischen Rückbezüge aufweist. In „Midnight in Paris“ flüchtet sich ebenfalls eine Figur aus ihrem zwar nicht bedrohlichen, aber unbefriedigenden Alltag in eine vermeintliche Idylle. Dort läuft längst nicht alles so perfekt, wie es anfangs scheint, und theoretisch hätte auch dieser Stoff eine gute Tragödie abgeben können. Doch Allen hat keine daraus gemacht, und das ist die eigentliche Sensation.
Wie in „The Purple Rose of Cairo“ zahlten sich zuletzt in vielen seiner Filme die Fluchten der Protagonisten in verrückte Ideen selten aus. Allens schon immer stark ausgeprägte Lust am Tragikomischen hatte eine ziemliche Schlagseite bekommen. Seine Figuren mussten meist damit rechnen, aller Hoffnungen beraubt zu werden. Der noch am ehesten lustig gemeinte Film der letzten Zeit, „Whatever Works“ (2009), basierte bezeichnenderweise auf einem 30 Jahre alten Drehbuch. Mit einem Film wie „Midnight in Paris“, einem leichten, witzigen und optimistischen Gegenentwurf zu „Purple Rose of Cairo“, war eigentlich gar nicht mehr zu rechnen. Doch Woody Allen wollte offenbar noch einmal mit guter Laune überraschen. Und das ist ihm so vortrefflich gelungen, dass „Midnight in Paris“ nicht nur dabei ist, Allens kommerziell erfolgreichster Film in den USA zu werden, sondern auch gute Chancen hat, ein unerwarteter, später Kandidat für die Woody-Allen-Lieblingsfilmliste zu werden. Musste der Filmemacher aber wirklich nach Paris, um zu diesem Optimismus zu finden? Brauchte er dieses kitschige Sinnbild europäischer Kultur, den Mythos dieser Stadt? Allen lässt es jedenfalls so aussehen.
Die Exposition seines Films zeigt das Postkarten-Idyll von Paris und lässt es in einer musikalischen Montage langsam Nacht werden – Mitternacht in Paris. Diese kleine Miniatur zum Einstieg wirkt als Reminiszenz an den Auftakt des Klassikers „Manhattan“ (1979) durchaus ironisch, zumal später im Film die Unmöglichkeit thematisiert wird, einer Stadt mit einem Kunstwerk gerecht zu werden. Allen weiß, dass er einen Mythos inszeniert, und er verweist darauf, dass er es schon immer so gehandhabt hat. Die Ästhetik des Films korrespondiert mit dem verklärten Blick seiner Hauptfigur, die die Stadt als Tourist erlebt: leuchtend braune, fast goldene Bilder eines Traums von Ort, pure Nostalgie. So weich sind die Konturen, dass sie aller von Blu-rays verwöhnten Blicke spotten. „Midnight in Paris“ wirkt wie aus der Zeit gefallen. Und passenderweise geht es in diesem Märchen genau darum.
Der Autor Gil (Owen Wilson) verdient gutes Geld mit bescheuerten Hollywood-Drehbüchern und ist trotzdem bzw. deswegen frustriert: Er träumt von einer Karriere als ernstzunehmender Literat und laboriert verzweifelt an seinem ersten Roman. Mit seiner Verlobten Inez, die aus reichem Hause kommt, verbringt er den Urlaub in Paris, denn Inez’ konservative Eltern sind dort geschäftlich unterwegs. Gil liebt die Stadt und träumt davon, in Paris zu wohnen – ganz im Gegensatz zu Inez, die ihn nur unterstützt, solange nicht seine etablierte Karriere den Bach runter geht. Plötzlich entdeckt Gil, dass ihn um Mitternacht ein Wagen in die 1920er Jahre bringen kann, wo er die Bekanntschaft mit vielen von ihm bewunderten Künstlern macht: F. Scott und Zelda Fitzgerald, Hemingway, Gertrude Stein, und viele mehr. Nicht zuletzt ist da auch noch Ariana (Marion Cotillard), eine von Picassos Musen. Wäre es nicht schön, einfach zu bleiben?
Die phantastische Reise zu einem idealisierten Ort, die ein wenig an die Kurzgeschichte „Die Tür in der Mauer“ von H.G. Wells erinnert, ist bei Allen kein Traumkonzept, sondern wird als faktischer, märchenhafter Zeitsprung präsentiert. Allen nutzt die Auftritte historischer Figuren für einige großartige Gags, die über Lacher beim bloßen Namedropping hinausgehen. So zeigen ausgerechnet die Surrealisten, denen sich der Zeitreisende eines Abends anvertraut, Verständnis für seine Probleme. Den Surrealismus selbst dagegen haben sie nicht unbedingt verstanden – Buñuel erweist sich in einer wunderbaren Szene als ziemlich schwer von Begriff.
Ausgerechnet am Ort seiner Sehnsüchte muss sich Gil von Gertrude Stein belehren lassen, dass eine defätistische Haltung ihn nicht weiter bringt und er seine Gegenwart nutzen muss. Der Optimismus, den Gil aus seinen Erfahrungen in der Vergangenheit für sein Leben gewinnt, wird aber nicht verabsolutiert – andere Figuren mögen es durchaus bevorzugen, ihrer Nostalgie nachzugeben, ihren Zwängen zu entfliehen und so ihr Glück zu finden. So hält Allen letztlich ein Happy End bereit, das fast alle Figuren mit einschließt – aber nur fast, denn eine böse kleine Pointe lässt er sich nicht nehmen.
Die Schauspieler in „Midnight in Paris“ werden wie oft in Woody Allens Filmen zu guten Leistungen angeregt, selbst in kleineren Rollen. Wie gehabt spielen sie viele längere, ungeschnittene Szenen – schon lange die bevorzugte Herangehensweise des Regisseurs. Herausragend ist freilich Owen Wilson, der allen Versuchungen zum Trotz seine Figur fast völlig ohne Woody-Allen-Manierismen auskommen lässt, die manch anderer Schauspieler gerne nachahmte, wenn Allen selbst nicht mitspielte. Keine Hektik, kein Dauerstottern, keine schlechte Kopie des Originals. Es wäre zu begrüßen, wenn Woody Allen in den 25 Jahren und 25 Filmen bis zu seinem 101. Geburtstag noch 25 Rollen für Owen Wilson parat hätte.
Als jemand, der Woody Allens Werk zugeneigt ist, möchte man dem Altmeister herzlich zu seinem Film gratulieren. Möge er tatsächlich weniger an der Welt leiden, als er bisweilen vorgibt. Sein Film jedenfalls macht diesbezüglich ein bisschen Mut. Es bleibt nur noch ein Wunsch: Falls es der Finanzierung eines zukünftigen Films behilflich ist und Allen tatsächlich mal in Berlin drehen sollte – diesbezügliches Interesse hat er ja bereits geäußert –, sollte der Kanzlerinnengatte eine kleine Nebenrolle bekommen. Die Bruni hat es schließlich auch nicht schlecht gemacht.