Dass Victor Erices Spielfilmdebüt „Der Geist des Bienenstocks“ das Werk eines ehemaligen Filmkritikers ist, verwundert kaum. Ist sein Film doch zugleich beseelt von der Liebe zum Kino, reich an Assoziationen und hinterfragt dabei die Bedeutung des Sehens zwischen Wahrnehmung und Imagination, Fakt und Deutung. Immer wird eine kritische Distanz zum Geschehen gewahrt, die Struktur bleibt episodisch, die Kamera statisch, als fürchte sie sich in Anbetracht der Schönheit der Bildkompositionen im Fokus zu verlieren. Der Blick ist trotzdem kein unterkühlter, manchmal fast schon ein liebevoller. Beispielhaft sind die Großaufnahmen vom Gesicht der jungen Hauptdarstellerin Ana Torrent beim erstmaligen Betrachten der leuchtenden Kinobilder aus James Whales „Frankenstein“. Treffender und authentischer kann man die Faszination für das Kino nicht bebildern.
Nicht selten wird im Zusammenhang mit „Der Geist des Bienenstocks“ auf einen der Erfolgsfilme der letzten Jahre verwiesen, Guillermo del Toros überschätzten Märchenfilm „Pans Labyrinth“. Und tatsächlich sind Parallelen nicht zu leugnen, beide Filme erzählen von fantasiebegabten Mädchen im faschistischen Spanien und dem Eskapismus als subversive Kraft. Sogar die väterliche Taschenuhr als zentrales Motiv wird in beiden Filmen aufgegriffen. Dennoch: Die Überschneidungen sind rein inhaltlicher Natur und da ein Film nicht gleich sein Inhalt ist, muss man festhalten, dass „Pans Labyrinth“ und „Der Geist des Bienenstocks“ kaum gegensätzlicher sein könnten.
Del Toros „Pans Labyrinth“ ist seinem Titel zum Trotz eher straight und konventionell, mit der Zielstrebigkeit einer Geisterbahn rollt er vorbei an Pulp-Faschisten und am Körperhorror geschulten Ekeleffekten. Am Ende der Fahrt wartet verlogenes Erlöserpathos inszeniert als Elbenkitsch à la Peter Jackson, um den Zuschauer mit dem Tod der Heldin zu versöhnen.
Das alles ist professionell und nicht ohne Liebe zum Detail umgesetzt, nimmt sich aber leider viel zu ernst und unterschätzt sowohl seine Zuschauer als auch die Möglichkeiten des Kinos. Ja, das Kino ist auch Traumfabrik, aber „Pans Labyrinth“ ist wie ein erzählter Traum. Alles wird ausformuliert und bis zum Erbrechen gezeigt, aus dem Off tönt ein Märchenonkel, jeder Schrecken bekommt seinen Spezialeffekt verpasst. Mit jeder ausgestellten Brutalität gerät der Film mehr zum Grand Guignol, während der reale Schrecken des Franco-Regimes zur bloßen Kulisse verkommt. Das Märchen hat gewonnen. (Als Preis einen Oscar für das Make-up und einen für das Szenenbild!)
Erices „Der Geist des Bienenstocks“ spielt ebenfalls in den Anfangsjahren der franquistischen Diktatur und erzählt von dem Mädchen Ana, das mit seiner Familie in einem kleinen kastilischen Dorf lebt. Der Alltag ist geprägt von Monotonie und Schweigen, doch als eines Tages ein Wanderkino ins Dorf kommt und Whales „Frankenstein“ aufführt, beginnt Ana unter dem Einfluss der Kinobilder ihre Welt mit neuen Augen zu sehen.
Der Film entstand zu Beginn der siebziger Jahre in Spanien, als alle Filme einer strengen Zensur unterlagen. Wohl auch deshalb ist „Der Geist des Bienenstocks“ eine Allegorie von geradezu enigmatischer Subtilität geworden und stellt den Zuschauer vor eine intellektuelle Herausforderung beim Entschlüsseln der zahlreichen Symbole und Anspielungen. Ein großer Reiz des Filmes liegt in der Vieldeutigkeit seiner Bilder, wie sie „Pans Labyrinth“ mit seinen Doppelungen und Dichotomien fremd ist. Diese Ambiguität wirkt dabei niemals beliebig, sondern erhöht die Komplexität und Dichte der filmischen Diegese.
Beispielhaft hierfür ist die Inszenierung des Anwesens der Familie. Mal sieht es mit seinen gelben Wabenfenstern aus wie ein Bienenstock, in dessen Innern das automatisierte Familienleben abläuft. Dann erscheint es als verlassenes Geisterhaus, das den Schwestern Freiheit zum Toben bietet, aber gleichzeitig ihre Einsamkeit verbildlicht. Vor allem durch die Außenansichten wirkt das Gebäude mit seinen Zinnen wie eine Festung, bei der man nicht recht weiß, ob sie denn nun Schutz vor der Außenwelt bietet oder ob die Familie ihre Gefangenen sind. Das Private wird zum zwiespältigen Refugium vor dem Politischen, hier entstehen Zufluchten vor der gesellschaftlichen Realität.
Wo bei del Toro der Eskapismus in Form der Heldin Ofelia idealisiert und dem opportunistischen Verhalten der Erwachsenen gegenübergestellt wird, kennt „Der Geist des Bienenstocks“ zahlreiche Schattierungen der Realitätsflucht: Die Mutter schreibt Liebesbriefe, die ins Nichts führen, der Vater versinkt in der meditativen Betrachtung seiner Bienenstöcke und Anas ältere Schwester Isabel brütet dunkle Fantasien aus. Das eskapistische Verhalten ist hier einerseits eine Überlebensstrategie, insofern es Sehnsüchte erfüllt, die in der Realität des Faschismus nicht zu befriedigen wären, andererseits verstärkt es auch die Entfremdung von den anderen Familienmitgliedern und die eigene Isolation.
Ana, deren Vorstellungen stark vom Vater und vor allem von Isabel geprägt werden, verkörpert hingegen die Realitätsflucht als Keimzelle der Utopie. Die Fantasiewelten des Kinos ermöglichen ihr eine Distanzierung von der „wirklichen“ Welt und erlauben so erst deren Veränderung. Das kleine Mädchen – da ähnelt es den Protagonisten aus Produktionen des Studios Ghibli wie „Die letzten Glühwürmchen“ oder „Mein Nachbar Totoro“ – verliert sich nicht in der Imagination, sondern macht sie zum Teil seiner Realität und deutet diese neu. Der Eskapismus wird zum emanzipatorischen Akt erhoben.
„Der Geist des Bienenstocks“ ist ein Film der Möglichkeiten, ein demokratischer Film, in dem Sinne, dass er offen und zugänglich ist. Sein intellektueller Anspruch schließt sinnliches Erleben nicht aus. Er kennt die Welt der Märchen, wie uns sein Soundtrack und das einleitende „Es war einmal …“ verraten, er weiß um die Bildgewaltigkeit sakraler Kunst ohne gleich katholisch zu sein und nutzt die suggestive Kraft der Horrorfilme Whales und Brownings. Er kennt viele Fantasien, aber er verfällt ihnen nicht, er folgt ihren Konventionen und Klischees nicht bis zum bitteren Ende.
Es ist ein demokratischer Film, weil er dem Zuschauer Raum gibt, weil er erlaubt, den Blick schweifen zu lassen und selber den Fokus auszumachen. Er zwingt den Zuschauer nicht mit anzusehen, wie einem Mann eine zersplitterte Glasflasche ins Gesicht gerammt wird und verkauft das als Geschichtststunde.
In einer Szene hört man Anas Vater davon reden, dass er einen gläsernen Bienenstock konstruiert hat, um seine Bienen besser beobachten zu können. Dann blickt er unvermittelt in die Kamera, sein Blick ist schwer zu deuten. Sieht er auf uns, die Zuschauer hinter der vierten Wand, wie auf seine Bienen, die gut organisiert, aber frei von Vorstellungskraft sind? Oder sehen wir aus wie Ana, als sie zum ersten Mal Frankenstein auf der Leinwand erblickt, das Gesicht ein geisterhaftes Leuchten im Dunkel des Kinosaals?