1949. Der Krieg ist vorbei, Frankreich von seinen Unterdrückern befreit, also kann die interne Unterdrückung wieder einsetzen. Schön wärs, wenn „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ auf historische Daten solcher Art nur einen kleinen Gedanken verschwenden würde, aber seine Protagonisten kommen aus Schubladen gehüpft, von denen wir hofften, dass sie spätestens seit „Der Club der toten Dichter“ aufgrund Klischeeverdachtes endgültig zu bleiben würden. Doch wer sind schon wir?
Eben. Also macht das französische Quotenkino, auf mehr oder weniger französische Weise, das, was das amerikanische Kino macht und kümmert sich einen Dreck um den gebeutelten Filmkritiker: Es produziert Rührung – und das noch nichtmal nach allen Regeln der Rührkunst. Denn ungenau wird die Dramaturgie der kindlichen Bekehrungen realisiert; manche Kritik beging die Sünde, diesen Film in einem Atemzug mit einem Monument des pädagogischen Auftrags wie „Das fliegende Klassenzimmer“ (BRD 1954, Regie: Hoffmann, Drehbuch: Kästner) zu nennen. Was da nämlich zündete und Tränen der jugendlichen Erkenntnis selbst in erwachsene Zuschaueraugen trieb, weil es noch richtig humanistisches Gedankengut war, wird hier doch nur noch müde gestreift, angedeutet und irgendwie vorausgesetzt.
Natürlich gibt es schon lange die Klischees des Schwererziehbaren-, Heim-, und Internatfilms, und weil (angeblich) die Hauptarbeit von Leuten wie Kästner oder meinetwegen Weir schon geleistet wurde, beschränkt man sich heute darauf, dass schon bekannt ist, worum es geht. Die Postmoderne im Kino setzt bekannte Zeichen voraus, die Codes sind interniert, so ist in unseren Köpfen die Vorgeschichte ewiger Internatsleidenschaft, und auf die Ohren des unvorbereiteten Beschauers prallt sowas wie die Wiener Sängerknaben – in Form reichlich harmoniebeflissener Kompositionen eines bescheidenen Pedells, Lehrers, Komponisten, der nur an das Gute im Kind – was hier heißen müsste: Jungen – glaubt. Dass singende Jungenkehlchen sozusagen rückwärts das Gute aktivieren können, das ist ein modernes Märchen, das übrigens auch Filme wie etwa der deutsche „Ghettokids“ (da wird ersatzweise gerapt) auf ganz ähnliche Art zu erzählen versuchen.
Nein! Nicht jeder picklige Teenager ist ein Sänger. Sehr, sehr wenige sind das. Und um deutlicher zu werden: So gut wie keiner ist das – geschweige denn ein „Superstar“ (welch unglückselige Berufung das auch immer sein mag). Ich werde aber den Verdacht nicht los, dass wenn der Film auch laut „Kultur“ und „Herzensbildung“ sagt, er leise sowas wie „Stardom“ und „Casting“ mitdenkt. Wieso singen die sonst so toll? Wieso entwächst aus ihrer Mitte ein berühmter Dirigent? Irgendwie kommt das in Mode. Viele neuere, angeblich sozialpädagogische, Filme meinen – ganz im doofen Sinn von Sendungen wie „Popstars“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ -, dass nur, wer über seinen ihm gegebenen Horizont in den Künstlerhimmel (der dem Medienrummelhimmel immer verdächtiger ähnelt) hinauszuwachsen imstande ist, auch so etwas wie eine Lebensberechtigung habe. Wie ungerecht und intolerant! Die Jungs in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ werden nur deshalb lebendig und liebenswert, weil sie (plötzlich und völlig unvorhersehbar) alle wie die Thomaner singen können. Mit Verlaub, das ist mir einfach zu tischler-, klempner-, metallfacharbeiterfeindlich. Zu viele außergewöhnliche Sänger und zu wenige gewöhnliche Adoleszenten. Zuviel Singsang und zu wenig Keilerei. In dieser platten Logik folgerichtig: Die Erziehung zum Gesang ersetzt die Erziehung zum Menschen, und es wird so getan, als wäre beides dasselbe. Im „fliegenden Klasssenzimmer“ durften die Kinder noch so sein und bleiben wie sie waren, in der individuellen Verschiedenheit lag der Wert jedes Einzelnen. Aber seit Filmen wie „Fame“ und „Der Club der toten Dichter“ schneiden Kinder, die gerne Flugzeuge basteln oder Fussball spielen, im Kino ganz schön schlecht ab.
Muss ich erwähnen, warum der Film auch sonst nicht gut ist? Weil der Internatsdirektor zu stumpf und böse ist, weil ihm die Aufgabe zukommt, für alles Schlechte dieser Gemeinschaft = Gesellschaft zugleich zu stehen – womit jeder ein wenig überfordert wäre. Filme, die die Probleme, an denen alle leiden, immer nur fragwürdigen Personen unterjubeln wollen, sind Märchen im schlechtesten Sinn, weil sie Erkenntnis behindern. Der Direktor des Internats ist zu schlicht zu böse, Monsieur Mathieu ist zu schlicht zu gut. Da ist es gar nicht mehr nötig, den Direktor auch noch mit dem Teufel zu vergleichen, wie Mathieu es tut. Einen Engel gibt es auch. Der Knabe mit dem Engelsgesicht, auch ihn läutert die Schule der Stimmbildung. Das Schwarzweiß ist auf Hundert Meter zu erkennen und es ermüdet. Mit Teufeln und Engeln sind sämtliche Konflikte entpolitisiert und sämtliche inneren Widersprüche bereinigt. Habe ich gesagt: Märchen? Echte Märchen sind ja deshalb okay, weil sie Unbewusstes transportieren, gesellschaftliches, freudianisches, archaisches. Märchen in der Art von „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ sind, so altmodisch und französisch sie auch scheinen, schon reine postmoderne Kapitalismusmärchen, nur noch entliehene Form, die sich kaum mehr an Inhalte erinnert. Mechanische Abfolge von Signalen. Und wer die Signale nicht hört, wer nicht merkt, dass er gerührt ist, den erinnert spätestens das Signal der draufgedonnerten Geigen daran: It’s Rührungstime!