Zum Anlass der deutschen Erstaufführung eines Frühwerks von Lars von Trier am 12.05.2005
1987, als Lars von Trier noch nicht berühmt, aber schon berüchtigt war, drehte er einen Film, welcher das Publikum ratlos und die Kritik verärgert zurückließ. „Epidemic“ (nach dem Aufsehen erregenden „Element of Crime“ [1984] und vor dem größeren Durchbruch „Europa“ [1991]), der zweite Teil von Triers „Europa“-Trilogie, ist bis heute eines der sperrigsten Trier-Werke, aber auch eines, das schon viel über seinen Autor erzählt, über sein stets ironisch gebrochenes, düsteres Weltbild und über sein Selbstverständnis als Regisseur und Künstler.
Beinah schon im Dogma-Stil beginnt dieser mit sparsamen Mitteln produzierte zweite Triersche Europa-Exkurs mit dem computergemäßen Scheitern zweier junger und ziemlich cooler 80er-Jahre-Intellektueller an ihrem Drehbuch. Niels (Niels Vørsel) und Lars (Lars von Trier) haben all ihr Vertrauen in eine Floppy-Disk gesteckt. Die Auftragsarbeit „Die Hure und der Kommissar“ sollte ein 120-seitiges, gewinnbringendes Drehbuch werden, doch beim Ausdruck ist auf der Diskette nichts mehr, außer der verstümmelten Überschrift. Zu cool gewesen vielleicht, egal, Schwamm drüber. Man lacht, man trinkt ein Bierchen, man raucht noch eine mehr, aber eigentlich, so Kollege Lars, habe das Drehbuch auch keine wirklich gute Szene gehabt. Bohemiéns in ihrer Küche. Gelassen, kaum getrübt ob ihres voraussichtlichen Scheiterns.
Plan B kommt aus der hohlen Hand: „Epidemic“, eine ganz lose Idee, so aus dem Nichts, über „Pest“ und dergleichen. Aber plötzlich sind wir in der Ideenküche der Macher Trier und Vørsel, die uns später „Europa“und die TV-Serie „Geister“ präsentieren werden, Filme, die nur aus dem freien mentalen Flux heraus das werden konnten, was sie wurden. Und plötzlich sind wir nah dran am Hirn eines von Trier, der im Film sich selbst und seine eigene Hauptfigur Dr. Mesmer spielt, den Arzt mit der bescheidenen Absicht, Europa vor der Pest zu retten.
Auf zwei parallelen Ebenen handelt ab nun der Film, in grobkörnigem Schwarzweiß zeigt er uns die Autoren bei der Arbeit, bei Recherchen für das Script „Epidemic“, zu denen auch eine Kurzreise durchs deutsche Ruhrgebiet und ein Besuch bei Udo (Udo Kier) in Köln gehören. Und er zeigt uns in hochaufgelösten Schwarzweiß-Einschüben das Endprodukt, Szenen aus dem geplanten Film, eine finstere Stil-Melange aus Filmen von Carl Theodor Dreyer und Andrej Tarkowskij, unterlegt mit der Tannhäuser-Musik von Richard Wagner.
„Wag Tann“, erklärt Lars beim Entwickeln des Storyboards, sei die „Bakterie, die immer näher kommt“. Nur seltsam, dass Wagner auch manchmal dann erklingt, wenn wir bei den Autoren verweilen. Ein raunender, allwissender Kommentator hat es dem Zuschauer früh zugeraunt: Durch einen merkwürdigen Zufall breitet sich auch im Dänemark von Lars und Niels ein rätselhafter Virus aus, aber „Leute, die an Ideen arbeiten, leiden sowieso oft an Kopfschmerzen.“
Der Film-im-Film beginnt, den Film zu infizieren. Ähnlichkeiten zwischen Arzt/Wissenschaftler und Autor/Regisseur bieten sich an. Beide, der Pest-Experte Dr. Mesmer und die „Epidemic“-Autoren Lars und Niels, beschwören das Unglück dadurch herauf, dass sie sich überhaupt damit beschäftigen. „Natürlich ist es der Arzt, der die Krankheit verbreitet. Ohne ihn und seinen Idealismus gäbe es gar kein Problem“, sagt Lars im Film und wird nicht müde, sich weiter in die grausige Materie zu vertiefen.
„Epidemic“ trägt, trotz seiner manchmal improvisiert wirkenden Beiläufigkeit, schon Vieles in sich, was die späteren Filme von Lars von Trier ausmachen wird. Im Keller des kopenhagener „Königlichen Reichskrankenhauses“, das Trier und Vørsel mit der Fernsehserie „Geister“ weithin bekannt gemacht haben, wohnt Lars (und der Zuschauer) tapfer einer Sektion an einem jungen Mann bei, als Niels oben, stationär, sich „ein paar Wucherungen“ hat entfernen lassen. Ganz ähnlich wie in „Geister“ auch der schwarze Humor. Die alte medizinische Beschreibung zweier völlig getrennt aus Pest-Beulen austretender, verschiedenfarbiger Eiterflüssigkeiten erinnert Niels sofort an die Zahncreme „Signal“, welche er als Kind kannte. In Deutschland (natürlich) finden sie eine Tube, die sie freudig aufschneiden, um den Farben auf die Spur zu kommen.
Neben Verspieltheiten, neben Genre-Anleihen (Doku, Splatter, wie auch in „Geister“) gibt es den großen Bogen, die große moralische Frage, und natürlich – die, ziemlich anmaßende, Frage nach „Europa“, nach der europäischen Historie, nach seinem „Geist“, vor allem aber nach dem „Europa-Gefühl“, welches für den Regisseur offenbar zuerst dessen „Deutschland-Gefühl“ ist. Deutschland, das für von Trier gleichermaßen faszinierende und bedrohliche Zentrum Europas, das Aufklärung, Idealismus, Wagner und die Shoah hervorbrachte, nimmt auch im zweiten Teil der „Europa-Trilogie“ einen zentralen Platz ein, und mit und in ihm der „Idealist“, der – wie die Missionare in den Kolonien – den tödlichen Virus selbst verbreitet. Wissenschaft und Fortschritt bringen Unglück und Verderben, aber „Erkenntnis führt zu einem religiösen Ende“, sagt der Lars im Film.
Ein paar Jahre später konvertierte von Trier zum Katholizismus, stellte die 10 Keuschheitsgebote vom „Dogma 95“ auf und drehte seither fast durchweg Filme über Märtyrerinnen. Filme, die auch dem großen Publikum gefallen …