Supermarkt

(BRD 1973; Regie: Roland Klick)

Willi gegen den Rest der Welt

Willi ist unter 21, was in der BRD des Jahres 1973 bedeutet: Willi ist minderjährig. Und weil Willi offenbar von Zuhause (wo ist das? Familie? Heim? Wir wissen es nicht) ausgebüxt ist, ist er ein Fall fürs Jugendamt. Willi hat nach Hamburg gemacht, und will irgendwas anfangen, aber wie minderjährige, sozial unterprivilegierte Jugendliche eben so sind: Willi drückt sich ziemlich orientierungslos in dunklen Ecken eines schmuddeligen St. Pauli herum.

Lange muss Willi aber nicht auf seine Abenteuer warten, denn dafür sorgen schon die Polizei, das Jugendamt, ein sozial engagierter Journalist, ein Kleinkrimineller, ein Schwuler und eine Prostituierte. Roland Klicks Film „Supermarkt“ nämlich kennt sich aus mit den Problemen, die einen jugendlichen Outlaw so bedrängen. Zunächst ist „Supermarkt“ ein Paradebeispiel für das, was man in den Siebzigern einen „Problemfilm“ nannte. Dieses Genre kurz zusammengefasst: Ein wehrloser Mensch scheitert an einer kalten Gesellschaft. Fassbinder war ein Virtuose des Problemfilms, weil er am konkreten, melodramatischen Fall das Exemplarische und auch – aber nicht nur – für die Gesellschaft Allgemeingültige herausstellte. Ein Problemfilm bei Fassbinder kritisierte nicht nur eine westdeutsche Wohlstandsgesellschaft, er drang zu den Grundfragen nach Mensch, Menschheit und Menschlichkeit vor.

Letzteres schafft Klick mit „Supermarkt“ leider gar nicht. Aber auch schon bei der plausiblen Milieustudie, beim schlichten Versuch, uns eine individuelle Notlage stringent näherzubringen, tut sich der Film auffallend schwer. Denn Willi (Charly Wierzejewski) ist in keiner Hinsicht ein Symphatieträger, und jede Hilfe, die ihm angeboten wird, schlägt er schnell wieder aus. Willi bieten sich mehrere Seinsformen: Er könnte es als Kleinkrimineller versuchen, denn aus irgend einem Grund hat Theo (Walter Kohut) an Willi einen Narren gefressen; als gutbezahlter Edelstricher, denn ein reicher Homosexueller (Michael Rehberg) verliebt sich in ihn. Er wird sogar vom sozial engagierten arrivierten Journalisten Frank (Michael Degen) bei sich zuhause aufgenommen, aber Willi ist – bis auf eine Ausnahme – überhaupt nicht in der Lage, über seinen eigenen Tellerrand zu sehen. Willi versucht überhaupt nicht, sich irgendwie anzupassen. Ihn nervt, wenn er auch mal den Müll runterbringen muss, und dass er seine Käsesocken nicht in der Spüle einweichen soll, kann er nicht nachvollziehen. Dass Willi unangepasst sein will, ist da verständlich, wo Anpassung für ihn Heimverwahrung bedeutet, aber wenn ihm jemand eine Unterkunft, Essen und gar eine Lehrstelle verschafft, macht ihn das genauso aufmüpfig. Dieser Sozial-Schuss des Films geht nach hinten los. Nicht die Gesellschaft hat hier schuld, sondern der nicht integrierbare Jugendliche. Da nützt auch nicht der sentimentale Lonesome-Hero-Song „Celebration“, der (etwa im Stil der Rolling Stones der „Wild Horses“-Phase von dem damals völlig unbekannten Marius Müller-Westernhagen gesungen wurde, der übrigens auch Wierzejewskis Texte synchronisierte) immer dann erklingt (und das ist häufig), wenn Willi wieder mal ganz selbstmitleidig guckt, weil er es sich wieder mal mit wem vergeigt hat. Genug zum sozialkritischen Aspekt, denn die Milieustudie in „Supermarkt“ klatscht immer da, wo es um eine konsistente Psychologisierung der Figuren geht, ein Klischee ans andere und hofft darauf, dass der sozialkritische Zuschauer schon vorausgesetzt hat: Ja, ja, das sind die Problemzonen unserer kalten Welt.

Her mit dem Trash- und Exploitationfaktor von „Supermarkt“, und hier stoßen wir auf einen kleinen Schatz. Klick ist nicht umsonst der gewesen, der drei Jahre zuvor „Deadlock“ gedreht hat, einen kruden deutschen „Italowestern“ mit einem so hohen fatalistischen Stilwillen und gleichzeitig unwahrscheinlichem Regie-Ungeschicklichkeitsgrad, dass man ihn, wie T. Groh, fast als Meisterwerk bezeichnen kann. Derselbe Hang zum Extrem, zur Drastik und zum grellen Moment blitzt immer dann in „Supermarkt“ auf, wenn er seine besten Momente hat. Dann erklärt sich auch, dass das sozialkritische Korsett nur Ornament war für den wahren Stoff, um den es Klick hier geht, und der liegt in der Form, genauer: der Ästhetik: Derbe Gewalt, dramatische Waffengänge, Betrunkene, Kotzende, sich in Pfützen prügelnde Kleingangster und schmutziger Asphalt. Apropos: Inhaltlich am deutlichsten inspiriert wurde der Film sicherlich durch John Schlesingers „Asphalt Cowboy“, und mit dem Handlungsstrang, in dem es darum geht, die Hure (Eva Mattes) zu befreien, nimmt „Supermarkt“ zumindest inhaltlich schon „Taxi Driver“ vorweg (wenn dergleichen nicht schon ein typischer Film noir-Stoff wäre).

Und: Wenn ein Film nicht im Studio, sondern on location gedreht wurde, hat er automatisch den Bonus der Zeitzeugenschaft. Für mich liegt darin der größte Wert von „Supermarkt“: Aus unzähligen Perspektiven sehen wir ein Hamburg der ersten Hälfte der Siebziger, speziell ein St. Pauli, das noch richtig roh, schmutzig, dunkel ist, und wir sehen die spießigen, verkniffenen Bürger jener Tage oder die schmierigen Kunden auf der Reeperbahn, die fettigen langen Haare und die breiten Koteletten der männlichen Protagonisten. Nackt gehen speziell die weiblichen Figuren durchs Bild, die in der Boutique oder im Puff arbeiten. Muffig sind die Polizeidienststellen und Ämter, fies und verknöchert die Beamten. Authentisch ist „Supermarkt“ viel weniger in seiner Handlung als in seinem dokumentarischen Gehalt, weil er mindestens zur Hälfte nicht imitiert, inszeniert, sondern stets das Original – zumindest als Set und Kulisse – verwendet.

Am Ende können wir auch noch das schöne Vergnügen erleben, wenn Witta Pohl und Michael Degen, die Stars der schlechthinnigen CDU-Familienserie der Achtziger „Diese Drombuschs“, sich in einem B- oder Underground-Movie (tja, was ist es denn nun?) die erzhysterische Seele aus dem Leib grölen oder mit besoffenem Charme eine Kneipe aufmischen. Sonstige Stars: der manisch-kriminelle Walter Kohut, und der in seinem Enthusiasmus weit über seine Minutenrolle ausufernde Alfred Edel, als schwadronierender, wild fabulierender Chefredakteur. Manchmal, nämlich wenn er sein „Problembewusstsein“ verliert, hat „Supermarkt“ schon einen Hauch von Schlingensiefs Anarchopubertätsfilmen, immerhin manchmal …

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Supermarkt
(Supermarkt)
Deutschland 1973 - 84 min.
Regie: Roland Klick - Drehbuch: Roland Klick - Produktion: Roland Klick - Bildgestaltung: Jost Vacano - Montage: Jane Sperr - Musik: Peter Hesslein - Verleih: Filmgalerie 451 - Besetzung: Charly Wierzejewski, Eva Mattes, Michael Degen, Walter Kohut, Michael Rehberg, Eva Schukardt, Rudolf Brand, Witta Pohl, Ferdinand Henning, Thilo Weber, Alfred Edel
Kinostart (D): 31.01.1974

DVD-Starttermin (D): 05.12.2005

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0070755/
Link zum Verleih: NULL