Vielleicht hätten sie doch in Berlin bleiben sollen. Aber jetzt haben sie sich für Kassel-Wilhelmshöhe entschieden, ein Häuschen gekauft, in der Nähe seiner Eltern, die sich gelegentlich um die Tochter kümmern können. Frieder, Arzt, widmet sich Haus und Kind, Nina, Ärztin, ist im Job geblieben, sie arbeitet im Krankenhaus. Sie stehen an der Schwelle zur bürgerlichen Kleinfamilie, eingerichtet haben sie es sich darin noch nicht, so wenig wie in ihrem Haus. Frieder sucht unschlüssig nach einer Lösung für das Fliesenmosaik (zu dunkel?) und der Tapetenwechsel beschränkt sich bisher auf das gemeinsame Freilegen des Verputzes.
Ninas Verschwinden gehört nicht zum Procedere. Sie verschwindet einfach, aus ihrer Ehe, aus ihrer Rolle, vielleicht um zu sehen, was dann noch übrigbleibt, von ihr, von der Welt. Es gibt viele „Vielleichts“ in dieser Skizze eines Alltags und eines Ausbruchsversuchs, vieles, was etwas bedeuten könnte, zwischen den Bildern und in den Dialogen, oder vielleicht gerade nicht. Vielleicht war es allein die Möglichkeit einer Schwangerschaft, eines zweiten Kindes, die Nina zur Revision veranlasst hat, vielleicht auch erst Frieders Pragmatismus („Dann machst du eben einen Test!“), als sie ihm von ihrer ausgebliebenen Periode erzählte. Irgendwie fehlt die Haftung, die Gewichtung, für das in feste Bahnen geratende Leben. Und irgendwie fehlt ein Grund.
Sie nimmt die Autobahn für ihre Flucht. Eine Harzreise per Auto. Von der privatimen Wirklichkeit in die Flüchtigkeit der alle zusammenführenden und auseinander bringenden (im Kino oft unterschätzten) Wirklichkeit des Autobahnnetzes. (Regisseur Ulrich Köhler hatte auch in seinem Langfilmdebüt „Bungalow“ lange Minuten damit verbracht, ein Autobahnkreuz zu studieren, und er hat gut daran getan. Vielleicht gibt es nichts, was unsere Nation heimlich stärker charakterisiert, da dominiert und kontrolliert, als unsere Beziehung zum Auto und zum Autofahren). In den Schlaglichtern der Scheinwerfer Surreales: Auf dem Rasen am Rastplatz inszenieren als Ritter verkleidete Mittelalter-Freaks einen Schwert-Kampf. Die Fliehende passiert Fliehende.
Im Harz. Im Schuppen der abgelegenen elterlichen Ferienhütte erschreckt Nina die Freundin ihres Bruders, denn sie steht da mitten in der Nacht mit der Kettensäge in der Hand, legt sie weg und sagt Hallo. Wieder ein „Vielleicht“, diesmal als dramatische Option. Hatte Nina ihrem Leben eine schmerzhaftere Expressivität verleihen wollen, der Film sein Genre wechseln – oder nur zeigen, dass „Berliner Schule“ kein Genre ist?
Gleich darauf der Anachronismus von Lebensstil und -inhalt: Schwester, Bruder und dessen mehrfach betrogene Freundin hocken zusammen bei einem Joint, wie ihre Eltern bei einem Kaffee, während Rio Reiser noch einmal singen darf: „ … und der lange Weg der vor uns liegt, führt Schritt für Schritt ins Paradies“. Gleichzeitig reden sie über die mehr als 200 Gesetzesnovellen der Bundesregierung. Es tut sich also was, nur man bemerkt es nicht. Zeitgleich und in einem Raum naiv-revolutionäre Utopien, SPD-Politik als Job – und zwei Beziehungsfiaskos. Kurz darauf: Die Freundin kippt um, mal ganz schnell. Eine vorübergehende tiefe Ohnmacht, nichts weiter.
Die Flucht zu geschwisterlicher Freundschaft funktioniert auch nicht, denn am Morgen ist der Bruder ein Verräter (er hat den fassungslosen Frieder in den Harz eingeladen) geworden, und Ton Steine Scherben sind sowieso ein Relikt aus einem anderen, fremden Jahrhundert. (Auch hier drängt der Film nicht zur Erkenntnis; er produziert sie ganz einfach, indem er einen kurzen kulturhistorischen Exkurs und Vergleich anstellt, den man nicht weiter beachten muss, aber kann.)
Nina leiht sich den Norwegerpullover ihres Bruders und radelt davon in den winterlichen Harz. Ein Hotelkomplex, „wie ein Ufo“ steht er da mitten im Forst. Das Presseheft hat Recht. Mit einem roten Geschenkbändchen drum und aus einem vergangenen Jahrhundert (als vor der (architektonischen) „Moderne“ noch nicht mal ein „Post“ klebte und auch Häuser, die für Geld und Wohlstand standen, noch absichtlich hässlich gebaut wurden). Wer’s nicht glaubt, muss den Film sehen. Es wird noch surrealer – obwohl es immer noch real sein könnte. Nina taucht im Hotel unter, vorübergehend, und gerät in ein Event: Ilie Nastase, der Tennisprofi der siebziger Jahre, tritt als Tennisprofi der siebziger Jahre in Anzug und Krawatte zu Spaßmatches an, in einer Halle mit Event-Publikum, Schampus, Kaviar und Technopop. Das Zentrum der Wälder birgt die denkbar größte Künstlichkeit. Soviel zum 21. Jahrhundert und seiner Definition von Romantik. Und soviel über ein paar schön beiläufige Details, derer „Montag kommen die Fenster“ ganz verblüffend viele aufweist.
An Antonioni musste ich denken, an seine Parabeln über die Fremdheit des Menschen mit sich selbst und seine Fremdheit in der Welt, und einen Film habe ich gesehen, von dem ich mich fair behandelt fühlte, weil er nicht mit dramatischen Forcierungen oder Belehrungen vorgeht. Einen Film, der es schafft, mit großer Sorgfalt und Geduld eine Geschichte aus der Gegenwart zu erzählen, deren einzige Zumutung darin liegt, dass sie einem vielleicht bekannt vorkommt.
Zur DVD:
Versehen mit zwei frühen Kurzfilmen des Regisseurs (die noch kaum auf die Spielfilme hindeuten), ein paar Kinotrailern und einer „Presseshow“ mit Kritiken zum Film (u.a. für Französisch-Könner auch, in unübersetztem Französisch, ein gescannter Artikel aus den Cahiers du Cinéma), verfügt die DVD nicht gerade über ein enorm umfangreiches Bonusmaterial. Das Interessanteste – neben dem Film selbst – ist ein im Booklet abgedrucktes Interview mit Köhler und Kameramann Orth aus der Vierteljahrszeitschrift Revolver Heft 16. Aber über das Hirn des Regisseurs kann man auch hier was erfahren.