Man bekommt fast den Eindruck, von Trier habe mit seinem neuen Film endlich ganz zu sich gefunden. Der Wiedererkennungswert von „Manderlay“ ist so hoch, höher geht’s kaum. Die „Dogville“-Parameter ironisch-allwissender Erzähler, rudimentäre Kulissen eines Planspiels, Kopftuchracheengel Grace und die aus der Dogma- und Vor-Dogma-Phase übernommene Technik der „falschen“ szenischen Anschlüsse (es gibt kaum eine Einstellung, die nicht durch einen Schnitt unterbrochen ist, nach dem die Schauspieler ihren eben angefangenen Satz plötzlich an einer anderen Stelle der Bühne in einer anderen Pose weitersprechen) sind alle wieder da. Nur eine stilistische Kontinuität, so wie diese, hat es in keinem der von Trier-Filme zuvor gegeben. Selbstfindung oder Stagnation eines Regisseurs, der vorher mit jedem Film sein (das) Kino neu erfinden musste?
Trier versetzt auch in „Manderlay“die Methodik des modernen Theaters (der fast leeren Bühne, die uns angeblich nicht vom Geschehen ablenken soll, aber uns ständig daran erinnert, dass hier nicht versucht wird, so etwas wie Authentizität (oder Illusion) abzubilden (oder herzustellen)) mit einem rein filmischen Verfremdungseffekt, dem Jump Cut. Diese zwei antillusionistischen Strategien gekoppelt deklarieren lauthals: Schaut her: Ich wirke wie Theater, aber ich bin nicht Theater, weil ich Film bin, und als solcher schneide ich alles so, wie es mir passt. Der Erzähler aus dem Off aber, wie so oft in seinen Filmen – und in „Manderlay“ ist er so geschwätzig wie nie vorher –, ist identisch mit Autor und Auteur und Regisseur Trier. Wir sollen wissen, dass dieser Film seine literarische Großhirngeburt ist. Und mehr noch als Theater oder Film ist „Manderlay“ eine Erzählung. Das Wort, das naturgemäß das Theater dominiert, bei von Trier dominiert es nun auch den Film, es ist, zwei Jahrzehnte nach von Triers fatalistisch-opulenten Bilderbögen von „The Element of Crime“ oder „Europa“ zur eifersüchtigen Kontrollinstanz geworden über jede cineastische Phantasie, Irritation, Irrationalität, die eventuell unbenennbar sein könnte.
Daraus, dass von Trier ein Kontrollfreak ist, hat er nie einen Hehl gemacht. Um sich und seine privaten Phobien zu bändigen, verordnete er sich Hypnosetherapien und den Katholizismus; um das bedrohlich ausschweifende postmoderne Kino (das er selbst mit einem Film wie „Europa“ perfektioniert hatte) zu bändigen, stieg er auf den Berg, um als Chefideologe und Religionsstifter die zehn Dogma 95-Gebote zu verkündigen. Die Antwort der Filmemacher – die Dogma-Website listet zur Zeit (18.11.05) den 53. Film mit Dogma-Zertifikat auf – mag seine drei Grundhypothesen bestätigt haben: 1. Die Menschheit wünscht und braucht ein festes Regelwerk. 2. Nur durch die kreative Einschränkung gelangt man zur kreativen Freiheit. 3. Lars von Trier ist Gott.
„Manderlay“ nun funktioniert kaum anders als Dogma 95 funktionierte. Die Figuren darin, überwiegend soeben von der Sklaverei befreite „Nigger“, benötigen jemanden, der ihnen sagt, wann sie essen sollen, wann arbeiten, wann schlafen – fehlt nur noch, wie Filme zu drehen. Da trifft es sich gut, dass ihr allwissender Drehbuchautor, Regisseur nicht nur ein ausgeprägtes Mitleid mit der einfachen schwarzen Kreatur besitzt, sondern auch einen ausgeprägten Hang zum sadistischen Besserwissen. Er quält Grace und uns, die Zuschauer, mit plumpen Belehrungen, dass der Mensch sowieso, aber der Neger erst recht unfähig ist, in die Puschen zu kommen, mit der Freiheit überfordert ist und sein begnadeter Körper am besten als Wixvorlage dienen möge, ein Projekt, an welchem Leni Riefenstahl in ihrer Spätphase hart arbeitete.
Natürlich ist man schon wieder auf von Trier reingefallen, wenn man sich von kruder Handlung zu kruden Äußerungen hinreißen lässt, wie ich es gerade tat. Denn natürlich wollte er wieder einmal testen, wie politisch und moralisch löchrig doch unser aller Weltsicht ist. Natürlich will er unsere bequeme und vertraute Logik durchbrechen und uns provozieren, nur wozu oder wogegen, wenn nicht doch am Ende gegen ihn selbst, den Großkopferten, den Oberlehrer und Dichterfürsten? Denn was nach dem zähen, zwanghaft ironische Haken schlagenden, „Manderlay“ im Mittelpunkt des Interesses steht, ist weder die Frage nach „Amerika“, darum ging es Trier sowieso nie (alles Ablenkungsmanöver), aber auch kaum mehr die Frage nach der so genannten „Menschheit“, die ihn ja durchaus eine Zeitlang beschäftigt hat, sondern die Frage: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Die Betonung dabei – und das ist intendiert – liegt auf dem „Dichter“, und das, mir fällt wirklich kein anderes Wort ein, das nervt nur noch.