„Lärm & Wut' beginnt mit einem Westernzitat: Es kommt ein Neuer in die Stadt. Aber in diesem Fall ist es kein Revolverheld, sondern der gerade mal dreizehnjährige Bruno (Vincent Gasperitsch) – mit einem Vogelkäfig in der Hand. Gerade aus dem Jugendheim entlassen, zieht er zu seiner Mutter in eine der Pariser Vorstädte, in der sich die Wohnblocks auf einem vorgelagerten Hügel ghettoisierend zusammendrängen. An der Haltestelle wird er nicht abgeholt, er muss alleine zurechtkommen. Im Treppenhaus macht er die Bekanntschaft von Jean-Roger (Francois Négret), des jüngsten Sprosses der Familie Roffi, der die Fußmatten vor den Eingangstüren der Sozialwohnungen abfackelt. Ein Tunichtgut, ein im wahrsten Sinne asozialer Mofarocker, der auch vor Keilerei, Diebstahl und Vergewaltigung nicht zurückschreckt. Und der dann Bruno seine Freundschaft aufdrängt. Die Zustände also sind chaotisch: Jean-Rogers Vater (Bruno Cremer, ganz groß!) zum Beispiel nutzt die heimische Wohnung als Schießübungsplatz und feuert mit dem Repetiergewehr den Flur entlang auf selbstgemalte Indianersilhouetten. Schwarzhumorig und grotesk ist das; unnötig jedoch, dass in Jean-Rogers Zimmer ein Rambo-Plakat an der Wand hängen muss und die Jungs manchmal einen Porno zusammen schauen. Da geht Brisseau leider unwürdige Abkürzungen.
Als Bruno schließlich in der Wohnung ankommt, ist die Mutter abwesend. Im weiteren Film, man ahnt es schon, werden der einzige Kontakt zum Sohn die handgeschriebenen Zettel sein, die sie ihm ans Korkbrett pinnt. Sie wird den ganzen Film über nicht auftauchen. Der Junge ist auf sich allein gestellt.
In der Schule hat der sensible Bruno Schwierigkeiten; doch seine attraktive Französischlehrerin erkennt sein Potential und fördert ihn. Hier findet er einen der wenigen Orte der Geborgenheit und vor allem auch: der Selbstbestätigung. Von ihr erfährt er zum ersten Mal, dass er kein Nichtsnutz ist, sondern ein liebenswerter Mensch. Man muss selbstverständlich nicht lange darauf warten, dass solche Bevorzugung die Eifersucht Jean-Rogers herausfordert, welcher ebenfalls in dieser Klasse sitzt. Er kann es nicht ertragen, Brunos Zuneigung mit einem anderen Menschen, und dann noch einem Lehrer, zu teilen – zumal er selbst als permanenter Störenfried und sexuell übergriffiger Rabauke von der Schule zu fliegen droht.
Als schließlich auch noch Jean-Rogers großer Bruder aus dem Strudel von Gewalt und Kriminalität auszubrechen versucht und einen Job in der Druckerei einer Zeitung findet, spitzt sich die Situation zu: die Familie Roffi kämpft um den ältesten Sohn, auf dass aus diesem alles nur kein ehrenwerter Bürger, kein „Sklave der Gesellschaft“, werde. Im stetig eskalierenden Geschehen, in das alle Figuren hineingezogen werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem schlimmen Finale kommen muss.
Dass das Thema „Gewalt in den Vorstädten“ auch heute, 22 Jahre nach Brisseaus filmischem Kommentar und Mathieu Kassovitz‘ sehr erfolgreichem „La Haine' (1995), noch virulent ist, kann man nicht zuletzt an den jüngeren Ausschreitungen in Paris (2005, 2007, 2009) wieder einmal sehen. Auch ein aktueller Film wie „Harry Brown' bemüht dieses Setting als Schauplatz für seine Rachephantasie und stellt den gesetzlosen (Klein-)Kriminellen das gesellschaftliche Unverständnis in Form seines Protagonisten (Michael Caine) gegenüber. Dieser Film allerdings geht einen anderen Weg: Harry nimmt das Heft selbst in die Hand und verkörpert derart den fleischgewordenen, aber stets unterdrückten Rachegedanken des konservativen Bürgertums, und aktualisiert damit den nicht gerade neuen moralischen Zwiespalt, der sich im Vigilantentopos des Selbstjustizfilms manifestiert – und der bekanntlich bereits in Don Siegels „Dirty Harry' (1971) mitsamt seinen Sequels ausgiebig formuliert wurde.
Die Figur des Rächers fehlt in Brisseaus Film. Hier geht es um die alltägliche Gewalt in den Wohnblocks der Banlieue, der Lebensrealität der sozial Benachteiligten und an den (Stadt-)Rand Gedrängten; um die Gewalt der Jugendbanden und um die Auswirkungen von verwahrlosten Familienstrukturen, exemplarisch festgemacht am Schicksal Brunos und Jean-Rogers. Brisseau hat, laut Selbstaussage, in diesem Film seine eigenen Erfahrungen als Lehrer an einer Realschule eines sozialen Brennpunkts verarbeitet. Dass aus „Lärm & Wut' kein didaktisch-moralinsaures Pädagogenlehrstück, sondern ein ästhetisch bisweilen herausfordernder und formal interessanter Spielfilm geworden ist, darf man dem Regisseur hoch anrechnen.
Moral ist aber auch nicht nötig. Denn die Personen desavouieren und demontieren sich selbst. Der Film ist souverän: er zeigt, er erklärt nicht. Jenseits des realistischen Ansatzes, der sich auch dem Humor nicht verschließt (welcher freilich ab und an im Halse stecken bleibt), sind besonders Brunos Visionen bemerkenswert. Tableauartig stilisierte Szenen veranschaulichen die jugendlichen Sehnsüchte Brunos, stark symbolhaft, enigmatisch. Da liegt beispielsweise eine erotisch inszenierte, gütig blickende und halbnackte Frau auf dem Bett und erwartet ihn mit offenen Armen (und Beinen). Diese durchaus problematisch kitschigen und emblematisch bedeutungsschwangeren Phantasiewelten fügen sich aber kontextuell gut in den Film ein, visualisieren sie doch die kurzen Momente eines Bedürfnisses der Weltflucht auf der Suche nach Zuneigung. Sie werden ästhetisch lediglich durch eine Veränderung in der Beleuchtung als irreal markiert. Somit besitzen sie dank ihres unmittelbaren Erscheinens sowohl eine Nähe zur Fiktion wie auch zur Realität: für Bruno sind diese Wahrnehmungen eindeutig reale Ereignisse.
Dass der Junge zusehends die Bodenhaftung verliert und sich immer stärker auf einen Abgrund hin bewegt, wird im Film mehrfach auch allegorisch thematisiert: in der Schule stellt Bruno der Lehrerin die Frage, warum die Menschen auf der Südhalbkugel nicht von der Erde herunterfallen. Daraufhin erklärt sie ihm die Phänomene der Erdanziehung und der Schwerelosigkeit. Später im Film wird dann klar, dass das „Herunterfallen von der Welt“ für ihn nichts Bedrohliches symbolisiert, sondern eine Befreiung von der irdischen Misere seines Lebens – ein Fortkommen hin zu den Sternen. Aber da ist der Vogel schon längst tot und alle Hoffnung fern. Für Bruno bedeutet das: Last Exit Bidonville.