130 Minuten: Das ist eindeutig zu viel für diesen Film. Chris Kraus möchte großes Erzählkino schaffen, und großes Kino ist ihm gelungen, was die Bilder, die Ausstattung, die Kostüme, die Kameraarbeit betrifft. Allein: das Erzählen funktioniert nicht so recht.
Chris Kraus, der zuvor mit fast demselben Team und mit überwältigendem Erfolg „Vier Minuten“ inszeniert hat, geht in „Poll“ recht frei der wahren Geschichte einer seiner Verwandten, der Lyrikerin Oda Schaefer, nach. Oda kommt 1914 als 14jährige auf den titelgebenden Gutshof ihres Vaters, eines deutschen Barons in Estland. Als geschasster Professor betreibt der in seinem Privatlaboratorium anatomische Studien an den Leichen estischer Anarchisten, die von den Russen erschossen und an ihn verkauft wurden. Einen solchen Aufständischen, der ein Massaker überlebt hat, findet Oda, er ist verletzt, allein, sie versteckt ihn, pflegt ihn, versorgt ihn, kümmert sich; und ein bisschen verliebt sie sich in ihn. Und er bringt ihr die Grundlagen literarischen Erzählens bei.
Viel mehr geschieht nicht, die ganze Zeit über. Es gibt eheliche Querelen des Vaters, Odas Bruder soll in russischen Militärdiensten zum Offizier ausgebildet werden; aber diese Nebengeschichten reichen nicht, den Film zu füllen. Immer bleibt das Gefühl, dass irgendwann doch eine Handlung losgehen müsste, ein wirklicher Konflikt, der Spannung erzeugt; doch der versteckte Este bleibt versteckt, Odas Geheimnis ist nie in Gefahr, entdeckt zu werden – eine minimale Story ist das, und das reibt sich irgendwie mit dem großartigen historischen Entwurf, den Kraus auf der visuellen Ebene bietet.
Man hätte aus dem Material viel mehr machen können; hätte mehr Suspense – der über emotionale Entfremdungen hinausgeht – einbauen können, hätte aus den einquartierten russischen Soldaten mehr machen können als reine Staffage, hätte vielleicht gar ein scharfes, pointiertes Zeitbild des Estland in den Tagen vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen können, in denen Russen und Deutsche gemeinsam die Esten unterdrückten. Das war eine höchst spannende, höchst angespannte Konstellation verschiedener Völker, verschiedener Interessen damals, doch die vielfältigen politischen, gegnerischen, revolutionären Konflikte aus dieser Situation entfalten sich nie, Politik und Historie laufen dem Familiendrama hinterher.
Einmal wirft der Gutsverwalter dem Baron vor, nicht die Anarchisten, sondern Leute wie er seien der Grund für die kommende Revolution. Ein Gedanke, der wie so viele andere im Film leider nicht weiter verfolgt wird.