Hubert Minel (Xavier Dolan) ist 17, schwul und pubertiert heftig. Da er seinen Vater seit Urzeiten nicht mehr gesehen hat, bekommt seine alleinerziehende Mutter seine ganzen Stimmungsschwankungen ab: Wut und Verachtung, blanken Hass und zärtliche Zuneigung, kurz: alles was in ihm rumort. Hubert hasst seine Mutter Chantale (Anne Dorval), Hubert liebt seine Mutter. Er braucht sie, und er will von ihr loskommen. Am besten in die eigene Bude. Und seine Mutter treibt ihn – wie alle Eltern ihre pubertierenden Kinder – zur Weißglut: Sie ist inkonsequent in ihren Entscheidungen – mal sagt sie, er dürfe ruhig ausziehen, dann verbietet sie es ihm. In einem Moment will sie Familie spielen – Sie: „Frag mich doch mal wieder, wie es auf der Arbeit war?“ – Er: „Wenn irgendwas gewesen wäre, hättest du es doch sowieso erzählt.“ – im anderen schickt sie ihn auf ein Internat, weg von sich und seinem neuen Freund Antonin (François Arnaud). Nun soll er raus aus der Stadt, die er so liebt, aufs Land zu den Hinterwäldlern. Da dreschen sie gutaussehende kleine Schwule, die es wagen, in der Dorfdisko mit anderen Schülern rumzuknutschen, mal einfach so zusammen. Was für eine Misere.
„I Killed My Mother“ ist ein beeindruckendes Debüt. Nicht unbedingt, weil der junge Kanadier Xavier Dolan bereits mit 17 das Drehbuch geschrieben und es dann mit 19 als Hauptdarsteller, Produzent und Regisseur in Personalunion umgesetzt hat. Vieles ist sogar furchtbar ungelenk, wird hier sichtlich zum ersten Mal ausprobiert. Die Digitalkamerabilder wirken wächsern, geradezu unfilmisch. Der Einsatz der bedeutungsschweren Klaviermusik ist oft prätentiös, das Drehbuch und die Inszenierung scheinen in die ganze Welt hinausschreien zu wollen: Seht her, hier bin ich, das junge Genie, ich kenne alles, weiß alles und kann alles! Ein Zitat aus der Kunst- und Kulturgeschichte jagt das nächste: Hier ein Cocteau-Zitat, da ein Verweis auf de Sades La philosophie dans le boudoir, Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses und die Gemälde Jackson Pollocks, ein Druck von Klimts Mutter und Kind an der Wand. Alle Figuren posieren ständig vor Gemälden, Gedichte werden rezitiert, Text erscheint auf der Leinwand, so als ob wir in einem Godard-Film wären. Zusätzlich: Jump-cuts und Montagesequenzen; Zeitlupe und Zeitraffer; eine Cadrage, die gerne auch mal Gesichter an- oder abschneidet; eine Super-8-Sequenz; eine selbstreflexive Erzählebene in Schwarzweiß, in der Dolan direkt in die Kamera spricht, die eigentliche Handlung aber in Farbe. Und natürlich – der Fetisch der Auteuristen überhaupt: eine autobiografische Geschichte. Das wirkt in etwa so, als ob Dolan versucht, Truffauts „Les quatre cents coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“; 1959) mit Godards hochmodernen Essayfilmen und einer Seifenoper zu kreuzen.
Ich muss zugeben, dass ich die erste Stunde von „I Killed My Mother“ gehasst habe. Die selbstverliebten Auftritte Xavier Dolans, der tatsächlich unverschämt gut aussieht – irgendwo zwischen dem jungen Johnny Depp, James Dean und Elvis – und dessen Hubert wegen Nichtigkeiten dauernd jammert, meckert, brüllt und zankt. Auch die Darstellung seiner Mutter: bourgeois, aber ohne Geschmack und Stil, unsicher, dem Jugendwahn so sehr verfallen, dass sie sich mit Selbstbräuner einen lächerlichen bronzenen Teint färben lässt. Nicht einmal ein Croissant kann diese Frau essen, ohne dass Dolan hinterhältigerweise ihren Mund in Detailaufnahme einfängt, die Essensreste in den Mundwinkeln ausstellt und sie obendrein schmatzen lässt. Und die ganze Zeit erträgt sie die Beleidigungen ihres verzogenen Balgs, dem die ganze Welt offensteht und der doch nur mit sich selbst beschäftigt ist. Vielleicht bin ich schon zu weit von der ganzen adoleszenten Malaise weg, um einen Zugang zu Huberts Problemen zu finden.
Doch nach der zermürbenden ersten Stunde geschieht etwas sehr Ungewöhnliches: Von dem Moment an, als Hubert die Stadt verlässt und in das verhasste Internat geht, öffnet sich der Film förmlich, bricht aus aus seinem geschlossenen Kreisen um sich selbst, zeigt sich unerwartet so viel reflektierter und erwachsener, als die erste Hälfte uns glauben macht. Selbst Chantale bekommt nun ihre große Szene und darf die ganze Wut auf die egoistische Machogesellschaft herausbrüllen. Und dabei weicht das, was zuvor vor allem selbstverliebte Nabelschau eines 19-Jährigen war, einer Zärtlichkeit für die Figuren, die gerade durch den Kontrast umso unmittelbarer berührt. So kommt Dolan am Ende vielleicht doch ganz nahe an das heran, was Truffaut mit seinem Debüt gelang.