Interessanterweise fällt es Teilen des Feuilletons schwer, zu akzeptieren, dass nicht jeder Film von Regisseuren, die schon ganze zwei Goldene Palmen in Cannes geerntet haben, herausragend sein muss. Nachzulesen im Kritikenspiegel des neuen Dardenne-Brüder-Werks „Lornas Schweigen“. Zuvörderst scheint man sich einig zu sein, dass, wenn die belgischen Brüder Jean Pierre und Luc Dardenne nicht schon die inoffizielle Sieger-Obergrenze des französischen Filmfestivals erreicht hätten, mit ihrem Neuling die dritte Goldene hätten einfahren müssen. Aber „Lornas Schweigen“ beweist, dass auch Meisterregisseure nicht unfehlbar sind.
Sicherlich, schon nach wenigen Sekunden stellt sich die Dardenne-Vertrautheit ein. Auch wenn das grobkörnige 16 mm- durchs hochauflösende 35 mm-Format vertauscht wurde und die Kamera etwas distanzierter, unbeweglicher und unspontaner geworden ist, folgt sie doch konstant der Protagonistin Lorna, einer jungen Albanierin, gespielt von Arta Dobroshi, die viel Ähnlichkeit mit Emilie Dequenne, der „Rosetta“-Darstellerin besitzt. Lorna ist im Begriff, sich und ihrem Freund in Belgien eine Zukunft aufzubauen. Da aber die reicheren Länder Europas es Menschen, die aus ärmeren Ländern stammen, praktisch unmöglich machen, auf ehrliche Weise an ihrem Wohlstand zu partizipieren – und ihn durch ehrliche Arbeit fördern -, ist auch Lorna zu illegalen Mitteln gezwungen, will sie ihrer Misere entkommen. Deshalb hat sie sich auf ein „Geschäft“ eingelassen, das den Tod eines Menschen einkalkuliert. Dieser Mensch, ein armes Würstchen namens Claudy, gespielt vom intensiven, heruntergehungerten Jérémie Renier („L’enfant“), wird von Lornas Geschäftspartner Fabio (Fabrizio Rongione) mit programmatischer Entmenschlichung als „der Junkie“ bezeichnet, was er auch ist, bis ihn irgendetwas, vielleicht die Scheinehe und die daraus entstandene Zweckbeziehung mit Lorna, dazu bringt, sich das Heroin abzugewöhnen.
Dadurch, und weil Lorna hautnah erlebt, wie auch Claudy um sein Leben kämpft, entgleitet er langsam der praktischen Kategorisierung des vor sich hinvegetierenden Süchtigen, der „früher oder später sowieso daran stirbt“, weshalb sein erbärmlicher Zustand durch eine Überdosis gar gnädig beendet würde. Diese Überdosis aber ist fester Bestandteil des Plans, denn von Vornherein wartet schon der reiche Andreï, „der Russe“, auf eine schnelle Heirat mit der Neubelgierin und Witwe Lorna, eine Scheidung von Claudy würde ihm zu lange dauern.
Je mehr Mitgefühl Lorna für Claudy entwickelt, desto bedrohter ist das abzuwickelnde Geschäft, und hier sind wir auch schon bei der vielfach variierten Hauptthese der Dardenne-Filme: Die Logik des freien Marktes, der Gewinnmaximierung, an der der „kleine Mann“ nur mittels illegaler Geschäfte teilhaben kann, ist mit der Logik des Menschen, mit Menschlichkeit nicht vereinbar. Der Zynismus des Systems wird da am stärksten offenbar, wo Menschen, um ein halbwegs würdiges Leben führen zu können, augenscheinlich keine andere Wahl haben, als über Leichen zu gehen. In „La Promesse“ (1996) wurde der Tod eines Afrikaners in Kauf genommen, um den kleinen Familienbetrieb mit illegal beschäftigten Immigranten zu decken. „Rosetta“ (1999) ließ, um an seinen Job zu kommen, beinahe ihren besten Freund ertrinken. Und in „L’enfant“ (2005) veräußerte ein junger Mann fröhlich alles, was er zu Geld machen kann, auch sein neugeborenes Kind.
Das Faszinierende an den bisherigen Dardenne-Filmen war, dass sie trotz ihrer unverkennbaren gesellschaftskritischen Thematik unideologisch und in einem positiven Sinne unpolitisch waren, indem sie mittels einer Erzählung eine These abzubilden und so zu beweisen versuchten, obsessiv der Realität (von Schleusern, Arbeitslosen, Kleinkriminellen) abgeschaute individuelle Schicksale entwarfen von Figuren, deren Motive und Konflikte dem Zuschauer deutlich spürbar und verstehbar werden konnten und das ganz ohne dramatische Überzeichnungen oder Effekte. Nur mittels dieser möglichen (kritischen) Empathie zu den Akteuren und wegen des Realismus der ökonomischen Sachzwänge, denen sie unterworfen waren, und nicht zuletzt durch eine klassische dramatische Zuspitzung erschufen diese Filme funktionierende Parabeln über das Wesen unserer Gegenwart. Wahrhaftig wurden diese Parabeln aber durch ihre detaillierte und sorgfältige Beobachtung individueller Mikrokosmen, sie produzierten ein Bewusstsein für die Zeit, nicht den Beweis für eine These von der Zeit. Wenn die Dardenne-Filme funktionierten, dann gingen sie mit ihrem Abspann erst richtig los: im Kopf und im Bewusstsein der Zuschauer, als Fragen, als Einsichten, als Zorn, als Traurigkeit, gar als ein Wiederentdecken von Zärtlichkeit und Solidarität.
In „Lornas Schweigen“ ist alles genauso und doch anders. Es ist, als hätten die Dardennes versucht, einen Dardenne-Film zu drehen, aber als hätten sie darüber die konkreten Figuren vergessen, von denen ihr Film handelt. Vielleicht liegt es an der distanzierteren Kamera, vielleicht an der nicht immer überzeugenden Hauptdarstellerin, vielleicht ist es die Schwäche des Drehbuchs, das keine konsequente moralische Entwicklung für Lorna vorsieht. Es wird weder deutlich, wieso die doch sensible Lorna sich anfangs so leichtfertig auf den mörderischen Deal mit der Schieberbande eingelassen hat noch warum sie dann plötzlich Mitleid mit Claudy entwickelt. In allen anderen Dardenne-Filmen ist nachvollziehbar, wie und warum Menschen zu unmenschlichen Handlungen veranlasst werden. Gerade in dieser Plausibilität lag das Schockmoment für den sich identifizierenden Zuschauer – und im Bewusstwerden ihres Handelns das kathartische Moment für die Hauptfiguren.
Doch Lorna kann man nur halb verstehen, sie bleibt papieren und indifferent, und weil sie deshalb keinen klaren Sinneswandel vollziehen kann, bleibt auch ihre Geschichte blass. Ihre Geschäftspartner/Widersacher aber sind mit einer Bösartigkeit ausgestattet, die in ihrer Weise ebenso unbeweglich und schematisch ist wie Lornas, gelinde gesagt, wenig glaubhafte „Naivität“. Da gibt es den kaltblütigen Taxifahrer, seinen brutalen Laufburschen und schließlich die stets als „der Russe“ bezeichnete Figur des heiratswilligen Russen, die kein einziges Klischee vom skrupellosen Russen-Mafioso zu hinterfragen bereit wäre.
Die Lesart ist so offensichtlich wie in keinem anderen Dardenne-Film, es gibt am Anfang Gut und Böse und es gibt am Ende Gut und Böse, nichts hat sich verändert, auch die Seiten, wie sonst so oft bei den Dardennes, wurden nicht wirklich gewechselt oder wenigstens relativiert. Jegliche Entwicklung, Veränderung, jegliche Spannung, jegliches Aufbrechen des Konfliktes, alle Elemente, die zu einem klassischen Dramas gehören und bisher immer das Gerüst vorhergehender Dardenne-Filme bildeten, werden in „Lornas Schweigen“ exerziert, behauptet, aber nie ganz spürbar. Der Film scheitert tatsächlich daran, dass er nur als Bebilderung einer These funktioniert, aber er erreicht nicht wirklich das Herz des Zuschauers und eigentlich stellt er auch keine Fragen mehr. Die Dardennes schaffen es zum ersten Mal nicht recht, ihrer Geschichte Leben einzuhauchen, und nach dem Abspann ist diese Geschichte ganz einfach nur vorbei.