Privat macht sich die etwa fünfzigjährige Irène (Yolande Moreau) Pippi Langstrumpf-Zöpfe, auf der Bühne ist sie eher eine Art französische Marlene Jaschke, ein schräges Weibsbild, übrig geblieben aus den Fünfzigern, mit Lauchstange und Mordwaffe in der Handtasche. Eine komische femme fatale im Streifenkleid, eine Figur zwischen Kleinkunst und Comedy. Die real existierenden Bühnenauftritte der in Frankreich renommierten Moreau sind der Angelpunkt einer Liebesgeschichte der fiktiven Komödiantin Irène in „Wenn die Flut kommt“. Der Film also kreist um drei Identitäten einer Person: Die echte Moreau spielt eine Komödiantin, die wiederum die Ein-Frau-Stücke der echten Moreau spielt. Man mag gar nicht die darin enthaltene Schizophrenie zu Ende denken, deshalb empfiehlt es sich, zunächst die Geschichte unbehelligt von derartigem Kopfzerbrechen zu betrachten:
Irène tingelt durch Frankreich, dabei begegnet ihr der Belgier Dries (Wim Willaert), der ihr einmal und dann immer öfter und immer lieber bei ihren Auftritten als improvisierter, aus dem Publikum rekrutierter männlicher Gegenpart dient. Die beiden lernen sich kennen, mögen und verlieben sich, aber irgendwo in der Ferne hat Irène noch eine sich nur durch das Handy manifestierende Familie, die die Schauspielerin von etwaigen amourösen Eskapaden abhält.
Das Ganze ist ordentlich gefilmt, man bekommt schöne Bilder von der wolkenverhangenen nordfranzösischen Landschaft und ihren Menschen und die schauspielerischen Leistungen der beiden Protagonisten sind nicht übel, erfreulicherweise ist auch Olivier Gourmet, berühmt durch einige Dardenne-Filme, in einer Nebenrolle zu bewundern. Nur eines habe ich nicht begriffen, nämlich, was mir dieser Film eigentlich sagen will.
Ist es spannend, wenn sich eine verheiratete Kleinkünstlerin neu verliebt? Per se noch nicht. Besonders nicht, weil man nichts über ihre normalen Lebensumstände weiß. Es ist aber noch weniger spannend, wenn sie davor zurückschreckt, z.B. verliebte Verrücktheiten zu begehen, die etwa ihr Leben in eine Tragödie verwandeln könnten.
Wenig spannend ist es auch, der Clownin Moreau bei der Inszenierung eines / ihres privaten Ichs zu beobachten. Vielleicht ist ihr das too near to the bone. Irgendwie maskenhaft wirkt oft ihr Lächeln und distanziert ihre Ausdrucksweise. Vielleicht fehlt ihr immer dann, wenn der Film nur Film sein will, ihre Bühne, denn sobald sie wieder in ihre Theaterrolle geschlüpft ist, fällt jedwede Verkrampfung von ihr ab und sie scheint – verborgen hinter einer richtigen Maske – wieder ganz bei sich sein zu können.
„Wenn die Flut kommt“ ist ein merkwürdig unzeitgemäßer Film und in seinem Sujet, in der Feier des Lebens der Kleinkunst- und Straßenkünstler-Existenzen ist er nostalgisch. Er erinnert wehmütig an die Zeit der achtziger Jahre, als die Friedensbewegung, die Träumer und die Clowns noch kleine Nischen in unserer rauen Welt fanden. Die symphatischen, ein klein wenig verrückten aber freundlichen Unangepassten, hier begegnen sie sich noch ein letztes Mal und – vielleicht wars das, was mir der Film mitteilen wollte – sind doch schon viel zu alt und zu bürgerlich geworden für die Flut der großen Gefühle. Aber Hand aufs Herz: Waren sie das nicht schon immer irgendwie?