Zwei liebgewordene Eric-Rohmer-Helden treffen sich in „Die Zeit die bleibt“, Melvil Poupaud und Marie Riviére. Die Protagonisten seiner beiden schönsten Sommer-Filme „Sommer“ (1996) und „Das grüne Leuchten“ (1985). Im Rohmer-Universum sind sie zeitlos jung geblieben, könnten sie Geschwister sein, bei François Ozon sind sie plötzlich zu Mutter und Sohn geworden. Eine Reminiszenz vielleicht an den großen menschenfreundlichen Regisseur und an Dekaden seiner Filme, welche unermüdlich von der Jugend und ihren Optionen berichteten (während ihr Regisseur unweigerlich ergraute) und vielleicht ein Hinweis auf das Verstreichen von Zeit, auf die Endlichkeit, die doch bei Rohmer stets eine untergeordnete Rolle spielt und spielte.
Das Sujet von „Die Zeit die bleibt“ aber ist die Physis des schönen, zynischen 31-jährigen Modefotografen Romain (zweite Reminiszenz: „Blow Up“ von Michelangelo Antonioni), die ganz plötzlich und ganz unerwartet vor dem endgültigen Verlöschen steht. Die Diagnose lautet Krebs mit einer Prognose von maximal drei Monaten Restlebenszeit.
Was bleibt zu tun? Der Vater wird – vielleicht zum ersten und zum letzten Mal bewusst – umarmt. Der ausgehaltene, jüngere Geliebte wird hinausgeworfen. (War die Beziehung nicht sowieso nur noch oberflächlich?) Die Großmutter (Jeanne Moreau) wird besucht, weil sie ihm ähnlich ist, denn auch sie wird bald sterben (dritte Reminiszenz: Fallls irgendeine Frau für die Nouvelle Vague stehen könnte, dann doch wohl sie. Aber die Moreau sieht hier wirklich verdammt alt aus. Was wird sein, wenn sie stirbt? Dann ist nicht nur die Nouvelle Vague sondern auch ein letzter prägnanter physischer Nachweis von ihr verschwunden.)
Und wer trägt gelassen die neueste französische Welle zu Grabe? Der Wellenschläger selbst. Der talentierte Tausendsassa François Ozon, Kenner des alten und die Hoffnung des neuen französischen Kino, der Fassbinder- und Hitchcock- und Horrorfilm-Epigone, der doch mit seinen Filmen immer wieder neue Verstörungen und neue cineastische Verweise erfand und der nun schon mindestens den zweiten Film gedreht hat, welcher nichts Interessanteres zu sagen hat, als dass die Zeit (die Biologie, die Biografie) des Menschen ärgster Feind ist.
Mit abgeklärtem Fatalismus und weichgezeichnet zeigte zuletzt „5 x 2“ die Vergeblichkeit institutioneller Liebe und nun müssen wir Romain dabei zusehen, wie er in milder Ergebenheit dem eigenen Ende entgegen siecht. Nach „Unter dem Sand“ aus dem Jahr 2000 ist „Die Zeit die bleibt“ der zweite Teil von Ozons „Trilogie über den Tod“. Gerade im Vergleich dieser beiden Filme zeichnet sich ab, wohin sich die Filme Ozons in den letzten Jahren entwickelt haben. „Unter dem Sand“ bezog seine Kraft aus seiner Vielschichtigkeit, seiner Rätselhaftigkeit, aus seiner Kunst Unsagbares zu sagen und offene Fragen stehen und wirken zu lassen. „Die Zeit die bleibt“, und das ist die größte Enttäuschung, scheint von der Wirklichkeit des Todes irgendwie überfordert zu sein und ist immer wieder bemüht, denkbare existentielle Abgründigkeiten mit Sinngebungen auf Frauenzeitungsniveau zu verkleistern: Das Sterben bedeutet für Romain Umkehr, Einkehr, und einen Versuch der Rückkehr zur Freundlichkeit. Er versucht eine Aussöhnung mit der von ihm zuvor unverständlicherweise grob und unfair behandelten Schwester, ein letztes versöhnliches Gespräch mit dem rüde verstoßenen Geliebten und er realisiert, dass (hohl, wie seine oberflächliche Existenz ja bisher war) er in seinem Leben nichts Bleibendes geschaffen hat. Ein Glück, dass ihm Valeria Bruni-Tedeschi (wieder einmal mit einer schauspielerischen Glanzleistung) über den Weg läuft und er mit ihr und ihrem zeugungsunfähigen Mann in einem (merkwürdig magischen) Dreier-Akt Nachwuchs produzieren kann.
Es gibt auch eine weitere magische Szene: Als Romain mitten in der Nacht das Wäldchen seiner Kindheit aufsucht, so wie er da im bläulichen Dunkel steht, da entsteht ein Bild seiner Leere und Verlassenheit. Doch leider mag Ozon auch diesen starken, dunklen Moment nicht wirken lassen und muss farbenfrohe Kindheitserinnerungen als Gegengift anwenden. Dass Romain hin und wieder seinem kindlichen Alter Ego begegnet, dem herzigen Lockenkopf, der mal scherzhaft ins Weihwasser pinkelt, mal ihm, dem Sterbenden, den blauen Ball zukickt, (Reminiszenz Nummer Vier: Die Erde, der blaue Planet?), treibt ihm die Tränen der Rührung in die Augen, aber eben diese Rührmomente trivialisieren den Film immer an den Stellen, wo er am stärksten hätte sein können.
Immerhin faszinierend ist das Zehren am offensichtlich fastenden Schauspielerkörper, schön auch die undramatisch angedeuteten Leidensmomente beim Kotzen, beim Schmerzpilleneinwerfen, beim sinnlosen Starren auf die weißen Füße im Sand des sommerlichen Badeortes. Eine Überantwortung des kleinen Egos an das ewige Sein. Und die Rückkehr des Rohmer-Darstellers zur ewigen Rohmer-Kulisse Sandstrand – und die Auflösung darin – inmitten betuchter Urlaubskleinfamilien, die alles ignorieren, was nicht käuflich ist oder Sport betreibt (Fünfte Reminiszenz: Robert Aldrichs 'Was geschah wirklich mit Baby Jane?“). Romain bleibt allein zurück. Hinter ihm sinkt die Sonne ins Meer.
Doch Moment mal. Gab es nicht schon in „5 x 2“ diese dominierenden Sonnenuntergänge? Und wie versteht Ozon das Sterben? Als den etwas ernsteren Ausklang eines Urlaubstages? Das sei dahingestellt, aber festgestellt sei auch, dass Ozon immer mehr dazu tendiert, Groteskes durch Pittoreskes zu ersetzen. Spannender werden seine Filme dadurch nicht. Irgend jemand sollte ihm bitte mal die Wattebäuschchen aus den Ohren, den Augen und den Nasenlöchern entfernen, damit ein halbtotes Regietalent endlich wieder zu uns Lebenden zurückkehren kann!
P.S. Und wer bitte hat sich erlaubt, bei der Filmbetitelung die Kommaregeln zu missachten?