Die Schöpfung erwacht: Am Beginn von Carlos Reygadas‘ Film „Stellet Licht“ ist die Natur mit sich allein. Die Dunkelheit bricht förmlich auf, während das zaghafte Flüstern der Tiere anschwillt. Die schweifende Kamera sucht sich einen Weg ins Leben: aus dem Unidentifizierbaren zum Licht hin und in den Tag hinein, der mit einem stillen Gebet beginnt. Natürliche Kreisläufe, Lebenszyklen und Pendelschläge: Die Struktur der Zeit verbindet Anfang und Ende, Morgen und Abend, Sommer und Winter. In „Stellet Licht“ wird für einen ewigen Augenblick die Uhr angehalten, um die Ausweglosigkeit eines emotionalen Dilemmas zu beschreiben; und um schließlich dann, wenn das Pendel wieder ausschlägt, die Erweckung durch ein heilendes Licht als Aufbruch und Verwandlung sichtbar zu machen.
Seine Frau Esther (Miriam Toews) und die sechs Kinder haben den Raum verlassen, der einfach und mit alten Möbeln eingerichtet ist. Wie auf einer Bühne sitzt Familienvater Johan (Cornelio Wall Fehr) am langen Küchentisch, von der statischen Kamera in einer langen, frontalen Einstellung aufgenommen, und windet sich verzweifelt und weinend in seinem inneren Schmerz. Was den stillen Farmer so erschütternd bewegt, erfahren wir bald darauf aus Gesprächen, in denen er sich zunächst einem Freund und danach seinem Vater (Peter Wall) mitteilt. Johan liebt zwei Frauen und empfindet dieses Glück zugleich als große Traurigkeit, die ihm wie „Blei in den Eingeweiden“ sitzt. Als gläubiger Mensch fragt er sich, ob sein Gefühlsdilemma „Gottes Werk oder das Werk des Feindes“ ist und ob seine zwischen Verlangen und Verzicht wechselnde Liebe zu Marianne (María Pankratz) nur dem „Durst nach Gefühlen“ folgt oder um die „Korrektur einer falschen Entscheidung“ ringt. Dabei resultiert das Leid aus dem Bewusstsein, dass es kein Zurück hinter das Geschehene in einen Zustand der Unschuld gibt.
„Friede ist stärker als Liebe“, heißt es einmal. Und dieses Mitleid mit dem Anderen, während alle Beteiligten leiden, führt direkt ins Zentrum einer friedliebenden Weltanschauung und Lebensordnung. Carlos Reygadas hat seinen mit Laien besetzten Film nämlich in einer nordmexikanischen Mennonitengemeinde angesiedelt, wo noch Plautdietsch gesprochen wird. Die offenen, freundschaftlichen Gespräche und der rücksichts- und verständnisvolle Umgang miteinander begünstigen dabei Reygadas‘ entdramatisierendes Konzept, das die existentiellen Konflikte nicht in äußere Handlungen und Ausbrüche übersetzt, sondern nach innen, in das Schweigen der Figuren verlagert. Entsprechend kontemplativ ist der von Ellipsen durchbrochene Erzählfluss des Films, der seine Höhepunkte nicht in der fiktionalen Zuspitzung findet, sondern in einer dokumentarischen, gleichwohl stilisierten Verdichtung von Zeit. Wer seine Produktionsfirma „Nodream Cinema“ nennt, schielt wohl kaum auf das Illusionskino. Und doch endet 'Stellet Licht' mit einem Wunder, dessen ambivalenter Gehalt die sozial-religiöse Ordnung bestätigt und wohl nicht zufällig an Carl Theodor Dreyers Film 'Ordet' (Das Wort) aus dem Jahre 1955 erinnert.