Wenn im Film oder auf der Theaterbühne verschiedene Generationen einer Familie zusammenkommen, anlässlich einer Feier oder eines Jahrestags, dann ist in der Regel mit dem Schlimmsten zu rechnen: Alte Versäumnisse, ungelöste Spannungen, dunkle Geheimnisse gelangen an die Oberfläche. Die Situation eskaliert, und hinterher ist nichts mehr wie es war. In „Still Walking“ ist es so ähnlich und doch ganz anders, denn erstens gibt es nicht den einen großen Eklat, der die vermeintliche Idylle zerstört, sondern viele kleine Brüche, die sich langsam zum dichten Netz entwickeln, und zweitens bleibt letztlich alles beim Alten. Nichts ändert sich. Und das macht es umso schwerer erträglich.
Einmal im Jahr im Sommer treffen sich die Yokoyamas, um eines Toten zu gedenken: Der älteste Sohn Junpei ist vor 15 Jahren im Meer ertrunken, als er einen fremden Jungen rettete und mit seinem eigenen Leben zahlte. Mit ihm starb die Hoffnung des Vaters Shohei auf einen Nachfolger, der seine Arztpraxis übernehmen und ihn mit Stolz erfüllen würde. Aus Shohei wurde durch den Schicksalsschlag ein verbitterter alter Mann, der für seinen anderen Sohn, den inzwischen 40jährigen Kunstrestaurator Ryota, nur Verachtung übrig zu haben scheint. Ryota verheimlicht vor seinen Eltern, dass er zurzeit gar keine Stelle hat. Schlimm genug für die, dass er eine verwitwete Frau geheiratet hat, welche einen zehnjährigen Jungen mit in die Ehe bringt. Da Ryota die Distanz zum Elternhaus sucht und so schnell wie möglich mit seiner Familie wieder abreisen will, scheint es seiner Schwester Chinami zu obliegen, in absehbarer Zeit mit ihrer eigenen Familie zurück zu den Eltern ziehen, um sie im Alter zu unterstützen.
Der starrköpfige Shohei scheint zunächst im Zentrum der Konflikte zu stehen und für die Spannungen verantwortlich zu sein. Doch bald zeigt sich, dass es noch mehr enttäuschte Erwartungen gibt, dass längst schon niemand mehr kompromissbereit ist und nicht nur Vater und Sohn sich gegenseitig etwas vormachen. Regisseur Hirokazu Kore-eda, auch für Drehbuch und Schnitt verantwortlich, erweist sich als äußerst genauer Beobachter des Alltags und des Zwischenmenschlichen. Nicht zu Unrecht wird sein Name bisweilen in einem Atemzug mit den großen japanischen Filmemachern Kurosawa und Ozu genannt. „Still Walking“ ist ein trügerisch ruhiger Film mit kontemplativen Momenten, der in keinem Moment langweilt. Kore-edas große Stärke ist dabei die Mise-en-Scène, in seinen langen, statischen Einstellungen wirkt nichts dramatisiert oder überinszeniert. Ihre Spannung gewinnen sie aus den Figuren und den oft kleinen Gesten der großartigen Schauspieler, so dass man eine dramatische Inszenierung im besten Sinn erlebt – gut getroffen, unaufgeregt und trotzdem schonungslos, mit einer Art präziser Beiläufigkeit.
Kore-eda, der in der fiktiven Geschichte eigene autobiografische Erfahrungen und Versäumnisse im Verhältnis zu seinen mittlerweile verstorbenen Eltern aufarbeiten will, setzt konsequent auf Ambivalenzen, so dass sein Film unversöhnlicher gerät, als man zwischenzeitlich erwarten könnte. Immer wieder ergeben sich Möglichkeiten, neu anzufangen, neue Vertrauensverhältnisse einzugehen, doch jedes Mal wird die Chance vertan, denn jeder pflegt seinen verletzten Stolz. Dabei wünscht man den Figuren nur Gutes, weil sie letztlich liebenswert geraten und in ihrer Zerrissenheit nachvollziehbar sind. Dennoch machen sie sich das Leben zur Hölle oder zumindest schwerer als nötig. Später, als einige Familienmitglieder am Meer stehen, steckt dort ein Schiff im Sand fest. Manchmal sind die Dinge eben festgefahren, und man muss es, zumal im Rückblick, akzeptieren. Aus der Erinnerung, auch davon erzählt Kore-eda, verschwinden die schönen Momente bald genauso wie die schlechten. Tröstlich ist das nicht unbedingt.
„Still Walking“ wurde bereits 2008 fertig gestellt, und es ist erfreulich, dass der Film jetzt doch noch auf der großen Leinwand zu sehen sein wird. Zu wünschen wäre das auch Kore-edas neuestem Film, dem grotesken, bösen Märchen „Air Doll“. Es handelt von einer naturgetreuen Sex-Puppe, die lebendig wird, sich unter die Menschen begibt und bei einem Job in einer Videothek Freundschaft, Zuneigung und die Liebe entdeckt. Ob es ihr schlussendlich besser ergeht als den Mitgliedern der Familie Yokoyama? Rechnen Sie besser nicht damit.