Schlingensief saß vor dem Fernseher und konnte es nicht so richtig fassen: Mauerfall und Einheitstaumel, Trabis und Bananen, „Wir sind das Volk“, der Bundespräsident und die Nationalhymne: das seien verlogene, geheuchelte Bilder, großer Murks, so erklärt er es im Interview. Und sie waren die Inspiration für seinen wohl bekanntesten Film. Als zweite Inspiration dienten ihm „Texas Chainsaw Massacre“ und vor allem dessen Fortsetzung, der spiele auf einem Jahrmarkt und sei angefüllt mit doppeldeutigen Bildern, so Schlingensief.
Innerhalb von zwei Wochen stand das Drehbuch, dann drehte er auch schon mit seiner üblichen Clique auf einem gerade verlassenen Stahlgelände bei Duisburg. Drei Wochen nach dem 3. Oktober 1990 war der Film fertig, auf den Hofer Filmtagen Ende Oktober fand die Premiere statt, Ende November war Kinostart: „Das Deutsche Kettensägenmassaker“ war der erste Schlingensief-Film, der richtig gut ankam.
Ja: Der Film ist publikumsaffin. Ein Horrorfilm mit Splatter, Blut und Gliedmaßen, also ein Underground-Genre-Produkt voller Tabubrüche. So fährt der Film als blinder Passagier auf dem Kultzug von Tobe Hoopers Texas-Massaker mit, er ist zugleich Parodie, Hommage und Remake. Zudem, und hier wird der Film fürs Feuilleton interessant, ist er aktuelle Satire auf den Einheitsrausch, auf überbordenden Jubel und Trubel im Wahn der Wiedervereinigung, auf die Verschlingung des Ostens durch den Westen. Und natürlich ist es ein echter Schlingensief, der Rausch und Wahn, Brüllen und Hysterie zusammenpackt als Film, ein undurchdringliches Chaos, das überhaupt nicht mehr in einer eindeutigen Weise interpretiert werden kann.
Das ist Schlingensiefs Methode: aktuelle Diskurse zusammenzupressen, mit Assoziationen, mit medialen oder geschichtlichen Bildern anzureichern, und das dann in einen Zustand permanenter Überdrehtheit zu überführen, schnell und dilettantisch hingerotzt einerseits, andererseits stilisiert und überhöht und mit großem Bewusstsein für gesellschaftliche vibrations und dafür, wie sie sich wirkungsvoll als Exzess präsentieren lassen.
Mit Mordlust und Sexperversionen zeigt Schlingensief das von allen Zwängen befreite Es – und zwar nicht nur einseitig, als Wahnsinn einer Hinterwäldlerfamilie, nein: alle sind von Irrsinn befallen, Ossis und Wessis, Männer und Frauen, Mörder und Opfer, auch die Politiker, die er in dokumentarischen Aufnahmen zu Anfang zeigt, die ganze Riege der Mächtigen mit Kohl, Weizsäcker, Brandt etc. Und diesen allseitigen Wahnsinn inszeniert Schlingensief möglichst schnell und möglichst laut. Der Film ist also auch ein Überfall auf den Zuschauer, ein Angriff aufs Publikum. Schlingensief packt die Wirklichkeit, durchmischt sie, wringt sie aus, dampft sie ein, presst sie zusammen, bis sie Kunst wird. Und haut sie dann dem Publikum um die Ohren. Brutal-Trash und Politmetapher, hysterischer Exzess und grotesk-überzogene Ambivalenz der Deutungsmöglichkeiten, dazu bissiger, böser Witz, der den ganzen Film durchzieht: Unter dem Schlagwort „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“ verwurstet Schlingensief in der Tat alles, was ihm unter die Finger und in den Kopf kommt; und zeigt damit, wo in dieser Gesellschaft überall Gammelfleisch rumliegt.
Nun hat die Filmgalerie 451 – die ohnehin alle Schlingensief-Filme im Programm hat – das „Deutsche Kettensägenmassaker“ neu aufgelegt, in der Premium-Edition RedLine. Darin enthalten ist nicht nur der Film, sondern auch das gesamte Interview „Christoph Schlingensief und seine Filme“, das Filmgalerie-Chef Frieder Schlaich 2002 mit Schlingensief führte. Darin berichtet Schlingensief ausführlich von seinem filmischen Schaffen, von den Anfängen mit acht Jahren bis zu „Die 120 Tagen von Bottrop“. Da Schlingensief gern lang und klug monologisiert, vermischen sich dabei Anekdoten mit Analysen, Abrechnungen mit Kritikern und Auseinandersetzungen mit der eigenen Arbeitsweise.
Außerdem enthält die Doppel-DVD Schnittreste – die aber weitgehend lediglich alternative Takes dessen sind, was schon im Hauptfilm zu sehen gewesen war – und einen bisher unveröffentlichten Kurzfilm, „My Wife in 5“ von 1985, mit fünf szenischen Fantasien über eine kleine Liebesgeschichte, unterlegt mit woanders geklauten Tönen und Musiken: als Weihnachtsgeschichte, als Bohème-Drama, als Märchen, als Sissifilm.
Eigentlich sollte die DVD zum 50. Geburtstag Schlingensiefs herauskommen; jetzt wurde sie zu seinem Requiem: Wir begehen den 20. Jahrestag der deutschen Einheit, und Schlingensief ist tot. Eine Schweigeminute allerdings ist kaum angebracht, eher lautes, irres Lachen während des „Deutschen Kettensägenmassakers“.