Olivier Assayas‘ ausladende Geschichtslektion zerstört den Post-68er-Mythos vom revolutionären Subjekt.
Wer in den 1970er Jahren mit Olympia-Attentat, Bombenanschlägen, Bewegung 2. Juni und Lorenz-Entführung, Bommi Baumanns „Wie alles anfing“, RAF und Schleyer-Ermordung, Mogadischu, Rasterfahndung, Hausdurchsuchungen, gesteigertem Fahndungsdruck und Toten in Stammheim aufwuchs, dem wird gewiss der „Spiegel“-Titel vom Juli 1976 in Erinnerung geblieben sein, als ein pausbäckiger Mann mit Sonnenbrille und dicken Koteletten zum „meistgesuchten Mann der Welt“ ausgerufen wurde. Die Rede ist von dem in Venezuela geborenen Ilich Ramirez Sanchez, genannt „Carlos“, der zwischen 1970 und seiner spektakulären Verhaftung 1994 im Sudan als internationaler Strippenzieher des Terrorismus galt: nicht zu fassen, aber fast ein Pop-Star.
Der bekannte französische Autorenfilmer Olivier Assayas („Irma Vep“, „Demonlover“) und sein Drehbuchautor Dan Franck haben sich jetzt in einer kompetent recherchierten und mustergültig umgesetzten Zeitreise auf eine Spurensuche begeben und dabei eine Geschichte des internationalen Terrorismus rekonstruiert, die desillusionierender nicht sein könnte. „Carlos – Der Schakal“, eigentlich als Mini-Serie fürs französische Fernsehen konzipiert, kommt in zwei unterschiedlichen Fassungen in die Kinos: Die kürzere Fassung dauert 190 Minuten und ist eigentlich nur denjenigen zu empfehlen, die die längere Fassung bereits gesehen haben, weil sich der Film fast schon hermetisch an einen Kreis von Insidern richtet. Figuren werden nicht vorgestellt; ganze Episoden wurden gnadenlos gekürzt. Die längere Fassung allerdings, die in einigen auswählten Kinos zu sehen sein wird, dauert 333 Minuten, wurde in Cannes mit lang andauernden Standing Ovations gefeiert und lohnt buchstäblich jede Sekunde. Gerade weil Assayas und Franck ihrer ausladenden, multilingualen Geschichtsrekonstruktion einige blinde Flecken des Fiktiven und Widersprüchlichen zugestehen, verfallen sie nicht auf den Fehler von Eichinger/Edel, die bei „Der Baader Meinhof Komplex“ nie über das oberflächliche, sinnentleerte Nachstellen von Action-Szenen und Medienbildern hinausgelangten.
„Carlos – Der Schakal“ beginnt 1973 mit dem erfolgreichen Bombenattentat auf Mohamed Boudia, den Leiter der Pariser Vertretung der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Carlos (sensationell körperbetont gespielt von Edgar Ramirez), der sich im Sommer 1970 der PFLP angeschlossen hat und auch bereits militärische Erfahrungen sammelte, will die Nachfolge Boudias antreten und reist nach Beirut, um bei Wadi Haddad, dem Mitbegründer der PFLP vorzusprechen. In der Folgezeit entwirft der Film ein buntes Szenario mit einigen mehr oder weniger gescheiterten Anschlägen, Polizistenmorden und lateinamerikanischer Revolutionsfolklore nebst entsprechendem Jargon, den Carlos souverän beherrscht. Er träumt von einem international operierenden Netzwerk des bewaffneten Kampfes und vereinigt Kaltblütigkeit beim Morden mit dem Charme eines Jet Set-Playboys und Womanizers. Die Filmemacher holen ein paar längst vergessene Kapriolen der Militanz aus dem Fundus der Geschichte, unterfüttert, vermittelt und kommentiert mit reichlich dokumentarischem Material.
Wer erinnert sich noch an die japanische Rote Armee Fraktion? Wer kann sich heute noch vorstellen, dass man noch 1975 Panzerfaustanschläge auf eine startende „El Al“-Maschine in Orly von der Besucher-Plattform aus ausführte? Als der Anschlag misslingt und eine geparkte jugoslawische Maschine zerstört, rennt Carlos zur Telefonzelle, um immerhin die Verantwortung für den missglückten Anschlag zu übernehmen, muss allerdings seitens der Presseagentur erfahren, dass bereits militante Kroaten die Verantwortung übernommen haben. Wenn, was recht häufig passiert, ein Anschlag misslingt, gibt es immer die recht unproblematische Option Geiselnahme, Verhandlung, Absetzen per Flugzeug in den Nahen Osten. Funktioniert fast immer. Carlos‘ große Stunde schlägt im Dezember 1975 beim Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien, bei dem Saddam Hussein die Fäden gezogen haben soll. Dieser Überfall, der eigentlich ein spektakulär getarnter Auftragsmord gewesen sein soll, ist ein gut einstündiger Film im Film, zeigt er doch exemplarisch, wie der Strippenzieher des Terrors schnell zum Spielball widerstreitender Interessen und auch sehr flexibler Koalitionen im Nahen Osten wird.
Einerseits geriert sich Carlos wie ein Popstar in Che-Camouflage, andererseits ist er doch nur exekutierendes Organ bei von Geheimdiensten unterschiedlichster Provenienz initiierten Händeln, die noch unübersichtlicher werden, weil auch der bewaffnete Widerstand in eine Vielzahl von Interessen aufgespalten ist. Später, bei Wadi Haddad in Ungnade gefallen, wird Carlos dann vom Macho-Soldaten zum Macho-Söldner, der immer wieder neue Deckung findet: mal in Syrien, mal in Bukarest, mal in Ost-Berlin, später in Amman und Khartum. Er mutiert zum Handlungsreisenden in Sachen Terror, arbeitet mit Mitgliedern der lustvoll grotesk gezeichneten Revolutionären Zellen aus Frankfurt zusammen, investiert viel Mühe auf den Mordanschlag auf den ägyptischen Staatspräsidenten Sadat, der dann doch von jemand anderem exekutiert wird. Mit dem Ende des Kalten Krieges wird die Situation des international Gesuchten prekär; schließlich ist der Sudan die letzte Station, wo zeitgleich Osama Bin Laden eine modernere Version des international operierenden Terrorismus auf den Weg bringt. Am Ende ist Carlos allen lästig geworden und wird als Relikt einer vergangenen Epoche fallengelassen.
Wer nach dem Sehen von „Carlos“ noch immer glaubt, es habe gewissermaßen autonome Terroranschläge ohne Instrumentalisierung und Infiltration seitens der Geheimdienste gegeben, ist naiv. Das sollte auch beim gegenwärtig stattfindenden Verfahren in der Mordsache Buback zu denken geben. Zwar nur eine Randnotiz wert, aber dennoch nicht uninteressant ist Assayas‘ Zeichnung der aus der Bundesrepublik stammenden Militanten, für die er (und offenbar auch Carlos selbst) nur sehr wenig Sympathie hegt. Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, die entscheidend am Schisma der Neuen Linken, an der Selektion der Juden auf dem Flugplatz von Entebbe beteiligt waren, bleiben merkwürdig unscharf gezeichnete Befehlsempfänger und Lebeleute. Hans-Joachim Klein, der beim Überfall in Wien schwer verletzt wurde, gerät als Aussteiger recht unkritisch zur moralischen Instanz des Films. Besonders schlimm sind allerdings die darstellerischen Leistungen von Julia Hummer als psychotische Killerin Gabriele Kröcher-Tiedemann, Alexander Scheers extrem manierierte Zeichnung von Johannes Weinrich als Trottel und Spießer und Nora von Waldstetten, der zu Magdalena Kopp wenig mehr als ein lasziver Blick einfällt. Auf Seiten der deutschen Fraktion gerät Assayas‘ faszinierende Rekonstruktion einer von der Geschichte hinweggefegten geopolitisch-ideologischen Landschaft, fast zur boshaften Satire, deren Elend es durchaus mit Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ aufnehmen, tja, kann oder muss.
(Die folgende Punktwertung gilt für die lange Version des Films)