Über Jahrzehnte wurde das italienische Nachkriegskino weltweit für seine visuelle Opulenz bewundert. Luchino Viscontis erlesene Ausstattung, Federico Fellinis überbordende Bildimagination und Sergio Leones barocker Ikonoklasmus haben, um nur drei Beispiele zu nennen, die Filmgeschichte geprägt, Kameramänner wie Vittorio Storaro, Tonino Delli Colli und Giuseppe Rotunno uns neu sehen gelehrt. Die Bildermacht des italienischen Kinos gründete zum Einen auf den exzellenten Kameramännern und Technikern der italienischen Filmindustrie, zum Anderen auf der Bevorzugung des Bildes gegenüber der Tonspur, die sich etwa in der lange Zeit bevorzugten Arbeitsweise italienischer Filmteams ohne direkten Ton niedergeschlagen hatte. Hier bedeuteten die Bilder – wie im Stummfilm – noch alles.
Seit einigen Jahren scheint das darbende italienische Kino das große Erbe seiner Kameramänner und Regisseure vergessen zu haben. Nur wenige Ausnahmen erinnern an die Meisterschaft vergangener Jahrzehnte, etwa die ironisch-unterkühlten Filme des Neapolitaners Paolo Sorrentino („Le conseguenze dell’amore“; 2004 und „Il Divo“; 2008) oder die des Sizilianers Giuseppe Tornatore („La Sconosciuta“ / „Die Unbekannte“; 2006). Nur sehr wenige dieser Filme haben es überhaupt in die deutschen Programmkinos geschafft. Da ist es umso erfreulicher, dass mit Luca Guadagninos meisterlichem „I Am Love“ („Io sono l’amore“) endlich wieder eine dieser selten gewordenen Ausnahmen auch bei uns zu sehen ist.
„I Am Love“ ist zunächst einmal ein Melodram: die Geschichte der Russin Emma (Tilda Swinton), die in die fiktive Mailänder Textildynastie der Recchis eingeheiratet hat. Die Recchis sind Kriegsgewinnler, die in der Zeit des italienischen Faschismus ihr Vermögen gemacht haben. Nun leben sie in einem goldenen Käfig, in den auch Emma, einem Statussymbol gleich, gesperrt ist. Auch für die Recchis gilt die Maxime des Fürsten aus Viscontis (bzw. Giuseppe Tomasi di Lampedusas) „Der Leopard“, dass die Dinge sich wandeln müssen, damit alles bleibt, wie es ist. Nur spielen diesmal die Frauen nicht mit, denn nachdem Emma erfahren hat, dass ihre Tochter (Alba Rohrwacher) sich in eine Frau verliebt hat und unbeirrt von den gesellschaftlichen Konventionen ihren Weg geht, lässt auch sie sich auf eine leidenschaftliche Affäre mit dem unorthodoxen Koch Antonio (Edoardo Gabbriellini) ein. Dabei kommt es zur familiären Katastrophe, die für Emma auch die Chance auf einen Neuanfang bietet.
Luca Guadagnino positioniert seine Erzählung durch Thema, opernhaft-melodramatischen Erzählgestus und Verweise, wie die Besetzung des Visconti-Veteranen Gabriele Ferzettis in der Tradition von Viscontis großen Familienstudien. Aber mehr noch sind es die durchkomponierten Bilder, mit denen Guadagnino Viscontis Werk fortführt. Hier wie dort ist der vermeintliche Ästhetizismus der Bilder kein hohler Selbstzweck, sondern integral für das Verständnis der erstarrten Rituale und Herrschaftstechniken des Großbürgertums. Die zentrale Liebesgeschichte ist in diesem Rahmen das Signum des Untergangs einer längst überkommenen Welt.
Der Regisseur und sein Kameramann Yorick Le Saux, der zuletzt Olivier Assayas‘ ausuferndes Terroristen-Biopic ‚Carlos – Der Schakal‘ fotografierte, richten höchst artifizielle Bildtableaus von berückender Schönheit ein, deren Brillanz nur umso deutlicher die innere Leere der Protagonisten herausstreicht. Dabei inszeniert Guardagnino seinen Film wie einen Lehrfilm für angehende Kameramänner und lässt keine Stilisierung aus: sehr lange und sehr kurze Brennweiten ebenso wie extreme Auf- und Untersichten; Bildmetaphern und eine Lichtsetzung, die durch Scheinwerferspots einzelne Figuren akzentuiert und aus dem Ensemble herausgreift; Matchcuts, komplexe Plansequenzen und ausgreifende Kranfahrten, die den filmischen Raum in einen Fluss versetzen; pointierte Montagesequenzen und schnelle Zooms, die ihn fragmentieren und zersetzen. Die Innenräume werden durch erlesenes Dekor in warmen Farbtönen bestimmt und die Kontrastierung von Komplementärfarben: in einem in oranges Licht getauchten Raum funkeln die grünen Weingläser wie Smaragde, die rothaarige Tilda Swinton tritt im königsblauen Abendkleid auf. Die Außenaufnahmen dagegen sind geprägt durch stahlgraue Stadtimpressionen aus Mailand, San Remo, London, die durch die Betonung geometrischer Muster beinahe abstrakt wirken. Zeugnisse der Industrialisierung – endlose Raster von Beton und Stahl, verschraubte Wendeltreppen, Glasfronten und Gitter, Hochhäuser, von der Kamera eingefangen wie kristalline Gewächse aus Stein – stehen in Untersicht erfassten Kirchen und barocken Fassaden gegenüber. So entsteht eine Welt der scharf abgegrenzten Gegensätze: Alt und Neu, Innen und Außen, Schein und Sein. Und dazwischen: ein Garten Eden, ein sommerlicher Naturraum, in dem Swintons Emma auf die primären Wahrnehmungen zurückgeworfen wird – sehen, riechen, fühlen, schmecken – und darüber die Liebe wiederentdeckt.
Der melodramatische Gestus von Guardagninos Film mag vielleicht etwas zu forciert wirken. Doch darüber hinaus gibt es viel zu sehen in „I Am Love“, und vor allem, neu sehen zu lernen. Und das bedeutet hier – und für eine neue Generation von Kinozuschauern – zurück geführt zu werden zu den Meistern der 1960er und 70er Jahre: zu Vittorio Storaros Kameraarbeit für Bernardo Bertolucci und Luigi Bazzoni und zu Armando Nannuzzis und Giuseppe Rotunnos Arbeiten für Visconti. „I Am Love“ ist gleichermaßen Melodram und boshafter Kommentar zum italienischen Bürgertum wie ein sensuelles Erlebnis.