Es war einmal ein Fischersmann, der fuhr jeden Tag aufs Meer hinaus. Er war ein stiller, einsamer Mann, der sich allein und auf See am wohlsten fühlte. Als er eines Tages sein Netz einholte, da fand er dort statt einem Fisch eine junge, bildschöne Frau. Sein Fang hatte keinen Namen und keine Erinnerung an sein früheres Leben und so wählten sie gemeinsam den Namen Ondine. Und da die Frau, die aus dem Meer kam, scheu war, scheuer noch als der Fischersmann, und andere Menschen fürchtete, blieb sie bei dem Fischer, der schnell Gefallen an ihr fand. Bald nahm er die Frau aus dem Meer mit auf See und wenn sie für ihn in ihrer fremden Sprache sang, dann blieben seine Netze nicht mehr leer, sondern waren mit Hummer und Lachsen gefüllt. Bald wollte der Fischersmann seine neue Begleiterin nicht mehr missen und auch seine Tochter, die an einer schrecklichen Krankheit litt, gewann die Frau aus dem Meer lieb. Doch die Frau aus dem Meer war keine Meerjungfrau, sondern eine ganz normale Frau mit einer nicht ganz normalen Vergangenheit. Und so kam es, dass eines Tages ein Mann ganz in Schwarz aus einem fernen Land tief im Osten Europas in das kleine Fischerdorf kam, um die Frau aus dem Meer zu suchen. Und nun musste unser Fischer all seinen Mut zusammennehmen, um die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen, seine Tochter zu heilen und seine neue Familie zu beschützen. Und als der Fischer und seine neue Frau handelten, da besudelten sie ihre Hände mit Blut. Denn mit jeder guten Fügung kam auch ein Schicksalsschlag über sie.
Neil Jordan ist kein Regisseur der eindeutigen Genrezuordungen. Schon „Angel“ („Straße der Angst“), sein Regiedebüt von 1982, war eine wüste Mischung aus Thriller, Melodram und Selbstjustizfilm. „The Company of Wolves“ („Die Zeit der Wölfe“), Jordans zwei Jahre darauf entstandenes Meisterwerk, bündelte eine Auswahl der feministischen Märchenerzählungen der britischen Schriftstellerin Angela Carter, kreuzte sie mit dem Horrorfilm und rahmte alles durch den erotisierten Fiebertraum eines pubertierenden Mädchens. Auch „The Crying Game“ (1992), Jordans größter kommerzieller Erfolg neben „Interview with the Vampire“ (1994) changierte zwischen Politthriller, Liebesfilm und Melodram, nicht ohne einen Gendertwist in der Mitte des Films unterzubringen, der vielen Zuschauern den Boden unter den Füßen wegzog.
Auch mit seinem neuesten Werk, dem 16. Spielfilm in 28 höchst produktiven Jahren, verweigert sich Jordan jeder Eingrenzung durch Genreregeln. Der komplett in Irland, u.a. auf Bere Island an der Westküste des County Cork gedrehte Film beginnt als märchenhafter Liebesfilm mit mythologischen Bezügen – von Meerjungfrauen, Nixen, Nymphen und Selkies bis zu Monstren aus Rumänien reicht die Motivkette. Auch die Namen der Protagonisten sind „sprechende Namen“: Ondine (Alicja Bachleda-Curuś) erweist sich als eine (heilige?) Johanna, unser Fischer Syracuse (Colin Farrell) firmiert im Dorf als „Circus, the Clown“. Und nach der halben Laufzeit wechselt Jordan schleichend die Tonlage, hin zum Thriller, um dann unerwartet mit einer märchenhaften Volte zu schließen.
Christopher Doyle, der höchst begabte Kameramann von Wong Kar-wei, taucht den Film in kalte Grün- und Blautöne, benetzt mit fahlblauem Licht Nebel und Dunst, ganz so, als ob die Geschichte der falschen Ondine und ihres Fischersmann sich unter Wasser abspielt. Auch Colin Farrell gibt sich redlich Mühe, den traurigen Syracuse glaubhaft zu verkörpern – mit Schlabberklamotten, Dreitagebart, langen, fettigen Haaren und reichlich Mut zur Verwahrlosung. Aber es sind die nur wenig bekannten weiblichen Darstellerinnen, die diesen Film tragen: Die 11-jährige Debütantin Alison Barry als Syracuses an den Rollstuhl gefesselte Tochter, und insbesondere die mit Farrell seit 2009 verheiratete polnische Schauspielerin Alicja Bachleda-Curuś, die mit Anmut und Natürlichkeit überzeugt. Stephen Rea, Jordans Stammschauspieler seit seinem ersten Film, ist ebenfalls bezaubernd als gequälter Dorfpriester, der mangels Alternativen als Publikum für Syracuses wöchentliche Anonyme-Alkoholiker-Treffen herhalten muss, dessen spiritueller Rat jedoch nie gefragt ist.
Woran liegt es dann, dass „Ondine“ letztlich doch ein wenig enttäuscht? Vielleicht daran, dass Jordan sich zu sehr bemüht, einen auch für eine breites Publikum kompatiblen Film zu inszenieren, indem er die durchaus vorhandenen Ecken und Kanten des Stoffs abschmirgelt. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ein schlechter Film ist „Ondine“ gewiss nicht, eigentlich sogar ein ziemlich guter. Aber gemessen an Jordans besten Filmen – „The Company of Wolves“, „The Crying Game“, „The End of the Affair“ („Das Ende einer Affäre“; 1999) – ist er doch nur gutes Mittelmaß. Was doppelt schade ist, da der Writer/Director/Producer Jordan nach dem unsäglich reaktionären „The Brave One“ („Die Fremde in Dir“; 2007) endlich wieder bei einer Produktion alle Fäden selbst in der Hand hielt. Aber zum Herbstanfang ist „Ondine“ gewiss ein Film, der sich bestens für einen verregneten Kinoabend eignet.