Rückwärts gehend und der Zukunft dabei in Erinnerung zugewandt erzählt Semih Kaplanoglu in drei Filmen von einem Mann namens Yusuf. Wir lernen ihn kennen (“Yumurta”) als unglücklichen Mann um die vierzig. Er ist Lyriker, hat einen Band mit dem Titel “Bal” veröffentlicht, scheint eher erfolglos und betreibt einen Buchladen in Istanbul. Dann stirbt seine Mutter und er kehrt zurück in das Dorf seiner Kindheit. In “Süt” ist er zwanzig und schreibt Gedichte und wir sehen, wie eine Frau kopfüber am Baum hängend eine Schlange ausspuckt und erfahren, warum Yusuf die Milch, die dem Film seinen Titel gibt, hasst. “Bal”, der Film, der nun anläuft, der Film, der in diesem Jahr nicht völlig zu unrecht den Goldenen Bären gewann, ist das Porträt des späteren Dichters als Kind.
Nicht weniger als ein beinahe vorsprachliches Weltverhältnis stellt der Film dar, und zeigt dann, wie das Kind fast gegen seinen Willen zur Sprache kommt als symbolischer Ordnung. Er zeigt aber auch, und darin, wie er es zeigt, liegt seine Größe, wie ein sinnlicher Weltbezug aussieht und darstellbar sein kann und wie man um seine (notwendige) Verlierbarkeit und seinen Verlust trauern kann, ohne sich dabei auf eine regressives Verhältnis zum Verlorenen und zur nur in der Erinnerung (die “Bal” ist) wiederzugewinnenden Zeit einzulassen. So also staunt man darüber, wie der Film Yusuf in ein flüsternd symbiotisches Verhältnis zum Vater und zur Natur setzt; dem Vater, der in den Wipfeln der Bäume in der nordöstlichen Türkei Honig gewinnt; der Natur, die waldreich ein Leben voller Entbehrungen umfängt. Nun aber sterben die Bienen und es gerät, gleich zu Beginn schon, der Vater in mehr als prekäre Lage hoch im Baum.
Der Sohn träumt von der Natur und sitzt in der Schule und kann lange nur stottern, wenn er vorlesen soll. Der Sohn fängt in der schönsten Szene des Films den Mond, oder versucht es, der auf der Wasseroberfläche in einem Eimer als Spiegelung schimmert. Viel Zeit nimmt sich, viel Zeit schenkt uns und seinem Helden der Film für Momente wie diese. Man kann die einzelnen, oft dunklen, oft lang dauernden Einstellungen ohne jede Musik (die nur ganz falsch in diesen Kosmos eindringen könnte) eigentlich nur als Kompositionen bezeichnen: Zeitbilder, die sich entfalten, ohne dass viel geschieht. Im Interview erklärt der Regisseur Semih Kaplanoglu seine Arbeitsweise, die viel mit Geduld, Sorgfalt und Genauigkeit zu tun hat, eine Arbeitsweise, die dazu führt, dass die Dreharbeiten seiner Filme in der Regel gut doppelt so lang dauern, wie es heute nicht nur in der Türkei üblich ist:
“Wenn ich einen Drehbuchentwurf fertig habe, wähle ich Location und Cast. Dann aber überarbeite ich das Drehbuch noch einmal gründlich. Darauf zeichne ich ein Storyboard, wo ich für jede einzelne Szene die Bilder im Detail zeichne. Vor Ort spreche ich mit dem Kameramann über die Auflösung. Ich glaube, es kommt letztlich darauf an, mein Zeitempfinden mit dem Rhythmus der Schauspieler und dem Tempo der Natur zu verbinden. Wenn das gelingt, gibt es eigentlich keinen großen Unterschied mehr zwischen dem Aussagewert eines Astes und einer Schauspielerin. Es geht mir nicht um einen Bildvordergrund oder einen Bildhintergrund, sondern um ein komplexes kompositorisches Ganzes, eine Harmonie der einzelnen Elemente.“ (Aus einem Interview, das ich im Juni in Berlin mit dem Regisseur geführt habe.)
Der Gefahr, auf diese Weise eine Art Manufactum-Version des Arthouse-Kinos zu produzieren, entging Kaplanoglu in früheren Filmen nicht immer. Und ein Teil seines Erfolges mag damit zu tun haben, dass manch einer nichts anderes als den Zug konservativer Zivilisationskritik in seinen Filmen erkennt. Das ist jedoch nur die eine Seite einer Beschreibung unserer Gegenwart, die um das Ambivalenzverhältnis des Fortschritts zu den Traditionen weiß, denen dieser entstammt. In “Bal” (dem eindeutig stärksten Film der Trilogie) gelingt es Kaplanoglu, den Zwischenzustand eines Kindes still zu beschwören und den Verlust seiner fast sprach- und jedenfalls schriftlosen Welt in bezwingende Bilder zu bannen. Zum Abschluss dieses merkwürdig invertierten Bildungsromans geht der Blick in der Erinnerung rückwärts und doch bleibt in der Vergegenwärtigung einer Kindheit die zukünftige Entwicklung des Helden als unvergessenes dialektisches Gegenbild stets präsent.