Sobibor – 14. Oktober 1943, 16 Uhr

(F 2001; Regie: Claude Lanzmann)

Auschwitz ist jetzt

‚Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.‘ – Claude Lanzmann

Selten wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk ‚Shoah‘, ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager, KZ’s oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer ‚Ikonographie des Grauens‘ (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten, also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes) aber dadurch auch vermeintlich tatsächlich Begriffenes darstellen. Die Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach 1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu ihrem Tode nicht loslassen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen, zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen. Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: ‚Wie war es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt, gedacht? Was haben Sie getan? ‚

In den intensivsten Momenten von ‚Shoah‘ meint man, Lanzmann wünschte sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist ja Auschwitz – und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer – aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können, die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu reden vom kranken, rassistischen Wahn.

Weil nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“, wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht, oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.

Aber es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu „Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.

Aus diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.

„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war, als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge zu sein. Mehr über „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ können Sie hier lesen.

„Ein Lebender geht vorbei“ (fertig gestellt: 1997) zeigt ein Gespräch zwischen Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979 überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet, welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt, wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten (dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung (von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren, statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“, während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können, sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden, der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.

Während „Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens, hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens – da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.

Ich selber habe erst vor kurzem „Shoah“ komplett gesehen und sah – noch ganz in dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Wut befangen – den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner, der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre, den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“. Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl gründlich verstehen können.

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Sobibor - 14. Oktober 1943, 16 Uhr
(Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures)
Frankreich 2001 - 95 min.
Regie: Claude Lanzmann - Drehbuch: Claude Lanzmann - Produktion: Claude Lanzmann - Bildgestaltung: Caroline Champetier, Dominique Chapuis - Montage: Chantal Hymans, Sabine Mamou - Verleih: absolut Medien - Besetzung: Yehuda Lerner, Claude Lanzmann
DVD-Starttermin (D): 09.04.2010

IMDB-Link: http://www.imdb.de/title/tt0286978/
Link zum Verleih: NULL
Foto: © Absolut Medien