Das New York einer unbestimmten Zukunft. Oder einer Parallelwelt, die der unseren ähnelt, aber nicht gleicht. Hierher kommt der namenlose schwarzhaarige Mann mit schwarzem Mantel und schwarzem Koffer. Die Aussätzigen vor der Stadt nennen ihn „Capricorn“ und weisen ihm gleich eine schicksalhafte Aufgabe mit ziemlich schwurbeligen Worten und kryptischen Hinweisen zu: Er soll diese verdorbene Stadt retten.
Kaum hat er die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern betreten, wird er in eine wilde Geschichte hineingezogen, die immer seltsamer und immer verwickelter wird. Ein Zeppelin stürzt ab, eine Katze führt zu einem alten Stollen, ein merkwürdiger grüner Ausschlag überwuchert Menschen… Und an Bord des Zeppelins befand sich ein „Ding“, an dem die geheimnisvolle uniformierte „Gilde“ und der Gangsterboss Cole gleichermaßen interessiert sind.
„Capricorn“ entführt in eine klassische Kolportagegeschichte, die sich dreht und windet, die in die tiefsten Tiefen dieses so fremden New Yorks führt – und sogar noch darunter – und in die höchsten Türme, die bis in den Himmel ragen. Hier ist man vor keiner Überraschung gefeit, hier ist definitiv alles möglich und höchstens von der Fantasie des Erzählers begrenzt. Dieser Erzähler, das ist Andreas (Martens), der 1951 im ostdeutschen Weißenfels geborene Autor und Zeichner, der in Düsseldorf an der Kunstakademie und im belgischen l’Institut St Luc sein Handwerk lernte und schon seit Jahrzehnten in Frankreich zu Hause ist.
Und was für ein Erzähler dieser Andreas – wie er sich verkürzt als Autor seiner Comics nennt – ist! Die Komposition seiner Seiten ist geradezu architektonisch und so präzise, dass man das Gefühl hat, den Zirkel und das Geodreieck noch über dem Papier schweben zu sehen. Das hat eine Wucht, die das Mäandernde der Geschichte und die Abwesenheit von lebendigen Charakteren vergessen lässt. Man geht, fährt, stürzt und fliegt mit diesen schablonenhaften Figuren durch eine bizarre Welt, an der man sich nicht sattsehen kann. Capricorn, Cole, Ash, Astor und wie die Personen noch so heißen, sie sind nur Begleiter, die ihre skizzenhaften Rollen in einem Spiel spielen, das weit größer ist als sie selbst. Was Andreas hier macht, ist Weltenschöpfung. Und die Menschen in dieser Konstruktion sind Staffage; Figuren, deren Treiben man mit Verwunderung und Amüsement verfolgt.
Dieser erste Band der lange überfälligen Gesamtausgabe von „Capricorn“ enthält drei der insgesamt 19 im Original zwischen 1997 und 2015 erschienenen Bände. Nach „Cromwell Stone“ und „Rork“ (2 Bände) setzt der Hamburger Verlag Schreiber & Leser damit seine Andreas-Ausgabe fort, für die man nur dankbar sein kann. Dankbar auch deshalb, weil zwar speziell in den 1990ern viele seiner Arbeiten auch auf Deutsch erschienen, aber eben im Fall von „Cromwell Stone“, „Rork“ und „Capricorn” leider nie beendet wurden. Dass sich das nun ändert ist ein großer Glücksfall und lässt hoffen, dass auch einige seiner Einzelalben wieder (oder erstmals) den Weg nach Deutschland finden. Zum Beispiel sein völlig singuläres kleines Meisterwerk „Das rote Dreieck“ (1995).
Andreas: Capricorn Gesamtausgabe 1
Schreiber & Leser, Hamburg 2016, 144 Seiten, 29,80 Euro
Dieser Text ist zuerst erschienen auf: comic.de
(Alle Bilder: © Schreiber & Leser)