Obwohl 2003 im kroatischen Split preisgekrönt, dürfte Klaus Wybornys Film „Sulla“ (1990-2001) eher zu den weniger prominenten Festivalhits gehören. Und in einer Branche, die ihre Kundschaft normalerweise im sechs- bis siebenstelligen Bereich angesiedelt weiß, ist die Zahl der Wyborny-Fans vermutlich am Umsatz esoterischer Lyrik zu messen. Auch besessene Avantgardisten und Experimentalfilmer wie er (1968 hat er mit Hellmuth Costard, Helmut Herbst und Werner Nekes die Hamburger Filmmacher Cooperative gegründet) sind in Deutschland ungerechtfertigterweise schnell als Esoteriker verrufen. Dabei hat er alles andere als Mystik, umso emphatischer Kino im Sinn – und wie sich mit minimalen Mitteln großes Kino machen lässt. Wer „Sulla“ einmal gesehen hat, dem ist unauslöschlich das Licht einer Landschaft ins Gedächtnis eingeschrieben – und das Agieren, Sinnieren, Räsonieren eines Mannes, dessen Figur Wyborny in seinem gleichnamigen Roman erfunden und im Film dem genialen Schauspieler Hanns Zischler anvertraut hat.
Der Mann ist Sulla, römischer Feldherr, Revolutionär, Staatsmann und Diktator, und die Landschaft nicht etwa ein beliebiges Italien, sondern eindeutig das klassische Latium bei Rom. Denn ganz unmissverständlich lateinisch sehen der blaue Himmel, die Wolken, die Pinien, der karstige Boden, die grauen Steine, selbst die Ameisen und die Pferdeäpfel aus; lateinisch tschilpern die Spatzen, denen Sulla – wartend, grübelnd, mal griesgrämig, mal in sexueller Hochstimmung – lauscht. Und dem lateinischen Kalender folgt auch das Datum, das Wyborny seinem Film vorangestellt hat: Man schreibt das Jahr 671 nach der Gründung Roms, das 427. Jahr der Republik.
Während eines langwierigen Bürgerkrieges nimmt Sulla eine Auszeit vom politischen Geschäft, reflektiert über den Gesang des Windes in den Pinien, über Freiheit und Unfreiheit, Natur, Form und Substanz, über das Wirkliche (wie wird es zum Tatsächlichen?) und über die gnadenlose Asymmetrie der Welt: „Ach, zuzementieren sollte man all das, die ganze Natur, die ganze Welt.“ Ein Gedankenstrom in antikem Gelände, den uns Wybornys geruhsam tropfende Erzählerstimme in Worte übersetzt und dabei poetische Stimmung und penible Sachlichkeit, das Tiefsinnige und das Banale, Zart-Erotisches und Krass-Zotiges in einem schwebenden Gleichgewicht hält.
Sulla erfährt, nachdenkend, die Erregungen des Wartens, denn er wartet ja, er wartet auf ein vergöttertes Wesen namens Mathilde (Corinna Belz), das er fern weiß und zugleich in sinnlicher Nähe vor sich sieht, als Epiphanie und als Projektion seiner Vorstellungen und sexuellen Begierden erlebt. Denn baut er nicht unablässig an einem erhabenen Tempel, den er ein „Fotzenheiligtum für Mathilde“ nennt und der ein Denkmal für Rom und die Welt, für Zeit und Geschichte, Natur und Staat sein wird? Bilden der Körper und die Politik nicht ein gemeinsames Muster, „ein Muster, worin sich die Republik für Jahrhunderte aufbewahren ließ“? Natur und Staat, „irgendetwas verbarg sich zwischen diesen beiden Worten.“
Es sind dies die letzten Worte des Films. In der Schwarzblende am Ende schwingt die satte Südlichkeit der Bilder weiter, die Erscheinung Mathildes – „er will sie nicht ficken, er will sie fühlen“ -, das helle Schnarren der Zikaden in den Pinien, der leise summende Gesang der Welt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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