Darf’s ein bisschen mehr sein?
von Ricardo Brunn
Berlinale Special Series
Kim Jong Un, der spritzige Diktator mit feschem Undercut, hatte bereits im Januar mit Vergeltung gedroht, sollte die Berlinale es wagen „The Interview“ aufzuführen. Manche behaupten, der kindliche Kaiser wäre schlecht informiert. Das Gegenteil ist der Fall: Kim Jong Un hat sehr genau verstanden, wie die Berlinale funktioniert. Hier ist nämlich alles möglich. In einer Zeit, in der immer mehr Filme in Kinos, Mediamärkte und Mediatheken gespült werden und sich tradierte Auswertungsketten und -fenster in Auflösung befinden, könnte den Festivals stärker denn je die Aufgabe zukommen, Ordnung ins Chaos bewegter Bilder zu bringen.
Die Berlinale setzt da seit Jahren radikal auf das Gegenteil. Immer mehr wird hier scheinbar gedankenverloren aufgefahren und vom Direktor auf Lebenszeit süffisant mit einem Verweis auf die Lebensmittelabteilung des KaDeWe gerechtfertigt, in der es ebenfalls recht unübersichtlich wäre, man aber jederzeit ganz besondere Produkte finden könne. Dem nordkoreanischen Diktator mit Weitblick wird folglich zu Recht Angst und Bange, wenn er glaubt, die Berlinale könne auch „The Interview“ noch einmal ausgraben und den Festivalzuschauern unterjubeln.
In diesem Jahr wird in einer fast schon an Verzweiflung grenzenden Umarmung der ganzen weiten Filmwelt den TV-Serien der feste Platz unter Kosslicks KaDeWe-Mantel eingeräumt, denn Serien sind das neue Kino. Schließlich machen Soderbergh, Allen und Fincher jetzt auch welche und alle schwärmen sie unisono von den ungeahnten Freiheiten und Möglichkeiten des Erzählens. Die Euphorie für alles Serielle kennt derzeit keine Grenzen.
Es steht außer Frage, dass TV-Serien in der Kulturindustrie ihren festen Platz haben. Nicht zuletzt dank der digitalen Technik haben sie sich visuell durchaus weiterentwickelt und vom Film gelernt. Die dramaturgischen Bögen, die hier über ganze Familienschicksale gespannt werden, suchen im Kino gewiss auch ihresgleichen. Doch eine Lebensgeschichte oder politische Intrigen über viele Stunden hinweg zu erzählen, stellt gerade keine Virtuosität dar. Der gewachsene Wunsch der Macher und Zuschauer nach detaillierteren Backstorys zeugt eher von einer veränderten Wahrnehmung, in der Auslassungen, die ein bewusstes Nach-dem-Film ermöglichen könnten, keinen Platz mehr haben. Die Welt nach dem Film mit anderen Augen zu betrachten, weil Kino bisweilen das Unmögliche wagt und den Zuschauer fordert, dieses Gefühl existiert bei TV-Serien nicht. TV-Serien wagen viel weniger als derzeit wie im Delirium allenthalben behauptet wird.
Unsere Flucht ins Serielle ist vielmehr ein zentrales Symptom unserer Zeit und speist sich aus zwei ineinander greifenden Bewegungen: Zum einen stellt sie einen Gegenpol zur als unerträglich empfundenen Zersplitterung des Lebens dar und ist damit Ausdruck einer Suche nach Halt und Kontinuität.
Parallel dazu beutet der Spektakel-Kapitalismus diese (von ihm erst hervorgerufene) Suche nach Beständigkeit konsequent aus, indem er nie einen wahren Abschluss für seine medialen Erzeugnisse findet und so den Strom des Konsums nie abreißen lässt. Denn wer eine Serie konsumiert, kann nicht nur durch den entstehenden Suchtfaktor nicht abschalten und Halt in Form von Reflexion, Ruhe und Schlaf finden. Er kann auch sehr lange Zeit nichts anderes konsumieren. Besser können die Produzenten und Verwerter ihre Zuschauer nicht an sich binden. Profitmaximierung entsteht folglich aus Aufmerksamkeitsmaximierung. Nur aus diesem Grund investieren Netflix und Amazon Prime derzeit massiv in eigene Serien.
In diesem Zusammenhang ist kaum verwunderlich, dass die Weltpremieren einiger TV-Serien auf der Berlinale nichts weiter sind als Marketing in Reinform. Von jeder Serie („Bloodline“ und „Better Call Saul“ aus den USA, „Follow The Money“ aus Dänemark, „Blochin“ und „Deutschland 83“ aus Deutschland, „1992“ aus Italien, „Blue Eyes“ aus Schweden, „False Flag“ aus Israel) werden jeweils nur ein bis zwei Folgen gezeigt, den Rest gibt es gegen Cash bei Netflix, auf DVD oder im TV. Das Festival dient als Durchlauferhitzer einzig und allein dem Spektakel und der mageren Beweisführung, dass die TV-Serien dem Kino ebenbürtig sind.
Nein, die Berlinale ist nicht die luxuriöse Lebensmittelabteilung des KaDeWe, eher noch ein Edeka-Supermarkt mit engen Gängen, in die hier und da ein weiteres Regal geschoben wird, um auch ja all die Waren unterzukriegen, die der zum Exzess verkommene Produktionsapparat zu bieten hat. Und weil wir schon bei Gleichnissen sind: Die TV-Serien sind in diesem Supermarkt die Häppchen, die ein gummibehandschuhter Edeka-Mitarbeiter von billigen Plastiktellern anbietet, damit der Kunde auf den Geschmack kommen kann und später auch ja die ganze Wurst oder den ganzen Käse kauft.
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Wo ist das Problem?
von Janis El-Bira
Wettbewerb: „Knight of Cups“ (R: Terrence Malick)
Es gibt noch immer kein richtiges Leben im falschen – was aber „falsch“ und was „richtig“ sein könnte, das ist in „Knight of Cups“ so offen wie in wohl keinem der zwei vorangegangenen Filme von Terrence Malick. Mit diesem schließt Malick „The Tree of Life“ und „To the Wonder“ zu einer, wie es scheint, Trilogie über Gelingen und Scheitern eines authentischen Weltbezugs zusammen. Wurden in „The Tree of Life“ noch die großen Fragen nach der individuellen Entfaltungsmöglichkeit in einer dualistisch zwischen „Natur“ und „Gnade“ aufgeteilten Lebenswelt gestellt, so war „To the Wonder“ eher ein Film unterschiedlicher Übersetzungs- und Übertragungsprobleme in der gemeinsamen „Begriffsarbeit“ eines Paares: Liebe, Sehnsucht, Heimat oder Freiheit – kaum etwas scheint in diesem Film sagbar in einer für den anderen durchsichtigen Sprache. Umso heftiger wanden sich die Leiber, streckten die Liebenden die Hände aus nach dem, was sie sprachlich nicht fassen konnten.
„Knight of Cups“ nun zieht seinen äußeren Rahmen, das also, was man konventionellerweise eine „Handlung“ nennen könnte, noch einmal enger. Man hat es beinahe mit einem Selbstgespräch zu tun, so engmaschig bleibt die Kamera Christian Bale immerfort auf den Fersen, der als Hollywoodschauspieler Rick in einer Sinnkrise steckt. Wie immer beim Malick der letzten drei Filme hat man es hier mit einem regelrechten Anschlag gesamtkunstwerklich-ästhetischer Art zu tun: Die Bilderströme des großartigen Kameramanns Emmanuel Lubezki fluten die Leinwand und werden zu gewaltigen Meeren der entlegensten Assoziationen montiert, die Musik spielt prominent (aber weniger dröhnend als zuletzt) und Voice-Over verschiedener Beteiligter (von „Figuren“ kann man nicht immer guten Gewissens sprechen) kommentieren und ergänzen.
Zentren des Films sind in alledem neben dem herumirrenden Rick vor allem zwei Metropolen des Scheins: Los Angeles und – in geringerem Ausmaß, aber dafür doppelt wild – Las Vegas. „Zentrum“ heißt hier nicht nur so etwas wie Austragungsort. Denn so sehr alles an Rick zu kleben scheint, so erstaunlich ist doch, wie wenig „Subjekt“ hier überhaupt statthat. Rick, ebenso wie seine Freunde und Gespielinnen, sein Bruder und Vater, mit denen er zuweilen schwere Konflikte austrägt, wirken wie flüchtige Erscheinungen, unverfasste Materialisierungen in einer unverfassten Welt. Dabei ist schönerweise nie gänzlich klar, was hier eigentlich das Problem ist: Sind es die vielen nackten Hollywood-Schönheiten, die Rick in teuren Hotelzimmern den Champagner über den Kopf gießen – oder ist es doch eher die Aufforderung zur Leidensannahme, die Armin Mueller-Stahl als Priester im Licht strahlender Kirchenfenster vor sich herbetet? Man wäre jedenfalls leichtfertig verführt, glaubte man, Malick behaupte hier standfest noch immer die Zugänglichkeit eines Anderen, Unverfälschten oder Höheren hinter all dem schnöden Abglanz. Wenn es das überhaupt gibt, so scheint er vielmehr zu sagen, dann führt der Weg dorthin einzig und allein just durch die Wand – mit dem Kopf voran zwar, aber vor allem mit offenen Augen.
Es ist somit ein Film der unzähligen Angebote, Deutungs-, Sinn- und Spieloptionen geworden, keineswegs einer der fertigen Verlautbarungen. Vielleicht ist auch deshalb die unverhohlene Lust am Zeigen hier so völlig maß- und im besten Sinne differenzierungslos, seien es nun Frauenhintern in engen Höschen, spielende Kinder, die Wunden der Obdachlosen oder das betonverwucherte Gesicht von Los Angeles, das mit mindestens derselben Liebe gefilmt ist wie die wüstenartige Natur drumherum. Sinnsuche, das buchstabiert „Knight of Cups“ wie kein Malick-Film zuvor, bedeutet auch immer wieder das In-Kauf-Nehmen von Sinnzerstäubung, Sinn-Aufschub. So wird der Strand, der am Ende von „The Tree of Life“ die Toten in der leiblichen Auferstehung final zusammenführte, hier in einer Szene wieder von den Lebenden erobert. Sie baden, sonnen sich und schwimmen hinaus. (9/10)
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Behutsame Annäherung
von Nicolai Bühnemann
Panorama: „Haftanlage 4614“ (R: Jan Soldat)
Ein Mann windet sich auf dem Boden einer Dusche. Er hat nur eine Unterhose an. An Händen und Beinen ist er mit Schellen gefesselt. Sein Kopf steckt in einem Kissenbezug. Ein anderer Mann in Tarnhose und grünem T-Shirt steht über ihm, lässt mit dem Duschkopf Wasser auf den Bezug.
Dieses drastische Anfangsbild bindet „Haftanlage 4614“, der neue Film von Jan Soldat, erst nach und nach in den Kontext eines sadomasochistischen Rollenspiels ein, macht sowohl den spielerischen als auch den sexuellen Charakter des Geschehens deutlich. Denn Soldat, der in einer Reihe meist kürzerer Dokumentarfilme Menschen portraitiert, die verschiedene Spielarten menschlicher Sexualität praktizieren (Zoophile, Sadomasochisten, einen selbsternannten Sklaven) hat eine Woche lang in einem selbstgebauten Gefängnis gefilmt, in dem sich Männer freiwillig einsperren, fesseln, knebeln, ans Bett ketten, anschnauzen, verhören und schlagen lassen können.
Im Interview erklärt Soldat, dass die Entfernung der Kamera zum Geschehen – sein Film ist überwiegend in statischen, sehr genau kadrierten Totalen gedreht – etwas mit Respekt vor den Gefilmten zu tun hat, denen er sich nur ganz langsam annähern kann. „Das Recht auf eine Großaufnahme,“ sagt Soldat, „muss ich mir erst einmal verdienen.“ Nach diesem Prinzip einer behutsamen Annäherung funktioniert „Haftanlage 4614“ auch für die Zuschauenden. Mag einem die Art, wie hier gewalttätige Machtverhältnisse erotisch aufgeladen werden, zunächst eher befremdlich erscheinen, lernt man die Teilnehmenden doch nach und nach besser kennen. Indem man ihnen zusieht und sie von ihrer Lust und ihren Phantasien sprechen hört, kann man etwas von ihrer Intimität mit ihnen teilen. In der schönsten Szene des Films stehen die beiden Wärter im Profil, mittig im Bild. Der eine lehnt sich von hinten an den anderen an, umfasst, liebkost und beschnuppert ihn. Nicht nur hier entdeckt derjenige, der bereit ist, sich auf diesen Film einzulassen, eine sehr eigene Form der Zärtlichkeit. (9/10)
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Nur ein Handout
von Janis El-Bira
Wettbewerb: „Journal d’une femme de chambre“ (R: Benoît Jacquot)
Ebenso mühe- wie liebevoll ausstaffiert ist Benoît Jacquots Verfilmung von Octave Mirbeaus Jahrhundertwenderoman „Tagebuch einer Kammerzofe“ – bereits die dritte nach Renoir (1946) und Buñuel (1964). Es wird viel und mit silbrigen Fingerhüten genäht, die Reifröcke sind ebenso makellos gestärkt wie jene blütenweißen Tischdecken, die sich in den knarzenden Wandschränken türmen. Die ganze bürgerliche Piefigkeit der gediegenen normannischen Landsitze ist zu ahnen, wenn die Zofe Célestine (Léa Seydoux) durch die Hausherrin zur besonderen Vorsicht gegenüber einigen Gegenständen der Einrichtung gemahnt wird: „Très cher, ma fille, très cher!“ Nicht Ausstattungs-, sondern Sprachstaffage ist es jedoch, wenn man Célestine daraufhin laut denken hört: „Dumme, alte Kuh.“ Die Sklavenhaltung (als Lohnarbeit getarnt) wird dort ein Stück weit durchkreuzt, wo die Zofe ihren Geist und ihren Körper selbstbewusst ins Spiel setzt, also ein Gefühl für die (einmal sogar tödliche) Macht entwickelt, über die sie verfügt. „Den kann ich um den Finger wickeln“, denkt / sagt Célestine dann auch nach einem versuchten Übergriff durch den dauergeilen Hausherrn. In diesen Momenten will der ansonsten in Feinheiten und Anspielungen sich ganz genügende Film einmal deutlich sein, wirkt in der Wahl seiner Mittel aber eigenartig hemdsärmelig.
Seltsamer noch ist, wie sehr die Anwesen, in denen Célestine ihren Dienst tut, im luftleeren Raum zu liegen scheinen. Emanzipation wird als rein persönlich-charakterlicher Prozess dargestellt – Célestine gelingt das, einer anderen Magd, die, vom Hausherrn geschwängert, noch dankbar darüber ist, dass er sich bei der Zeugung halbwegs zärtlich angestellt habe, nicht. Von der Welt draußen, in der zu dieser Zeit in Frankreich die Dreyfus-Affäre weite Kreise zieht, dringt allenfalls die antisemitische Hetze des Gärtners Joseph in die Kammern und Küchen vor, kommt über eine fein illustrierte Halbseite aus dem Geschichtsbuch für die Oberstufe aber kaum hinaus. Das ist dann doch ein bisschen wenig. (5/10)
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Unterwegs nach Nirgendwo
von Nicolai Bühnemann
Forum: „Zurich“ (R: Sacha Polak)
Zu den Credits vor schwarzem Hintergrund erklingt ein Requiem. Die erste Szene, als Prolog dem Film vorgelagert, zeigt eine Frau, die in einem Fluss vor ihrem abgesoffenen Auto steht, ihr gegenüber auf der Straße sitzt ein Gepard. Frau und Raubkatze in Schuss und Gegenschuss. Diese enigmatische Szene bildet keinen Rahmen für die Handlung. Ebenso wenig wie der Titel gibt sie dem Road Movie ein Ziel, das es ansteuert. Und doch ist das ein Abschlussbild voller – etwas plumper – Symbolik. In diesem Bild wird die Bestie, vor der die Frau den ganzen Film über wegläuft, Fleisch. Die Konfrontation als Ende einer Flucht. Der Film, der auf dieses Bild folgt, ist streng in zwei Teile untergliedert. Der chronologisch zweite kommt zuerst und ist mit dem Titel „Hund“ überschrieben.
Nina (Wende Snijders) ist on the road. Ziellos treibt sie über die Autobahn, durch Großraumdiskos und Raststätten in einem europäischen Niemandsland – nur an der Sprache und ein paar Schildern merkt man, dass der Film überwiegend in Deutschland spielt. In diesen Ort des Transits sucht sie Halt – und ist doch immer viel zu schnell weg, um ihn jemals irgendwo finden zu können. Vor einer Konzertbühne fällt sie einem fremden Mann in die Arme. In einer Disko geht sie auf die Bühne und singt „These boots are made for walking“, bevor sie sie fluchtartig wieder verlässt. Einer schwangeren Frau in einer Autovermietung streicht sie über den Bauch. Einem Mitfahrer, der sie fragt, ob sie verheiratet sei, erzählt sie von ihrem toten Mann und bricht dann in Tränen aus. Mit einem Fernfahrer hat sie Sex. Sie bleibt eine Weile bei ihm, lernt seine Kinder kennen, bevor er die Beziehung grob und mit tragischen Folgen abbricht, weil sie nicht bereit ist, sich ihm zu öffnen, etwas von sich preiszugeben. Zu den Orten, an denen sie nie wirklich ankommt, zählt auch ihre Wohnung. Ein Stapel Briefe, das meiste Beileidskarten, ein voller Anrufbeantworter, nichts wie weiter. Irgendwo unterwegs sammelt sie einen Hund ein, der früher, in einem anderen Leben vielleicht, einmal ihr gehört hat. Der Hund ist ihr engster Verbündeter. Nicht der Abbruch der Beziehung zu einem Mann, sondern der Tod des Hundes fungiert am Ende dieses Teils in einer wirklich herzerweichenden Szene als Retraumatisierung, der Nina einen vergangenen Verlust neu durchleben lässt.
Diese erste Hälfte des Films hat mir recht gut gefallen. Für die Verlorenheit der Protagonistin, ihre Art sich treiben zu lassen, die ihr doch offensichtlich von einem Zwang, einer Getriebenheit diktiert wird, findet der Film eindrückliche Bilder. In einer der wenigen Totalen sehen wir Nina auf einem Parkplatz, mittig im Bild zwischen endlosen Reihen von LKWs. Keine Zuflucht. Nirgendwo. Ansonsten ist die Kamera dicht am Körper und vor allem dem Gesicht der Hauptfigur. Es ist als wolle der Film diesem Gesicht durch sein genaues Studium sein Geheimnis entlocken, als suche er auf diesem Gesicht nach Zeichen der erlebten Traumata. Diese Vorliebe zum Close-Up wird mindestens einmal, bei einem Überfall mit anschließender Flucht, mit der Ästhetik des neueren Horrorfilms kurzgeschlossen.
Leider folgt auf diesen chronologisch zweiten Teil der erste, in dem wir erfahren, was Nina zu einer ziellosen Drifterin gemacht hat. Programmatisch „Boris“ betitelt geht es darum, wie Nina, nachdem ihr Mann, der Fernfahrer Boris, bei einem Unfall gestorben ist, von dessen Doppelleben erfährt. Wie sie das gemeinsame Kind bei seinen Verwandten absetzt, um sich auf den Weg nach Nirgendwo zu machen.
Das Problem an dieser zweiten Filmhälfte ist nicht nur, dass alles, was in der ersten noch in Andeutungen verblieb, sein Geheimnis bewahren durfte, nun psychologisch ausgedeutet wird – die Rumtreiberei ist nicht nur Flucht, sondern auch Wiederholungszwang, der die Protagonistin in genau jenes Milieu führt, aus dem ihr geliebter Gatte entstammte -, sondern auch, dass der Film hier immer wieder in eine überbordende Tragik verfällt. Düster klingen die Choräle, während Nina am Steuer ihres Autos die Augen schließt. Wo die Hauptfigur ständig auf der Flucht vor ihren Gefühlen ist, davor sich auf Bindungen einzulassen, nach denen sie doch offenbar sucht, wo der Film doch allen Ausgang offen lassen möchte, tut er auf der anderen Seite doch alles, um dem Zuschauer vorzuschreiben, was er zu all dem zu fühlen hat. Schade. (5/10)
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Expeditionen unter der Bettdecke
von Janis El-Bira
Wettbewerb: „Queen of the Desert“ (R: Werner Herzog)
Triumphierend streckt Gertrude Bells (Nicole Kidman) beduinischer Begleiter Fattuh dem türkischen Beamten eine hochamtliche Reisegenehmigung entgegen, die seiner kleinen Karawane das Weiterziehen durch osmanisches Gebiet ermöglicht. Andere Szene, selber Gestus: Die Forscherin mit der Porzellanhaut bekommt von einem ihr verfallenen Diplomaten einen stattlichen arabischen Hengst geschenkt. Das Pferd ist ergaunert, wie das Dokument zuvor natürlich gefälscht war. „If you don’t have a shooting permit, fake one“, lautet schließlich eine oft zitierte Handlungsmaxime des Filmemachers und Weltreisenden Werner Herzog.
„Queen of the Desert“, sein erster nicht-dokumentarischer Film seit knapp sechs Jahren, ist reich an derlei lustvoller Selbstreferenz. Dabei spiegelt sich in Nicole Kidmans ungeheuer hochgewachsener, kerzengerader Erscheinung, mit der sie die allermeisten männlichen Protagonisten um gut und gerne einen Kopf überragt, im Wüsten- und Dromedarsetting des Films eine ähnlich fremdkörperliche Ausstrahlung, mit der Herzog selbst sich andernorts in Höhlen, Gletscherspalten und zwischen Baumwipfeln zu umgeben pflegt. Seine Heldin Gertrude Bell ist ganz und gar Abenteuerin im Sinne einer Herzog-typischen (und erzromantischen) „Sehnsucht nach dem Unendlichen“, wie Friedrich Schlegel sie zur Reisemotivation für den zivilisationsmüden Bürger des 19. Jahrhunderts erhob. Zu sehen ist sie am Beginn des Films als tagträumerische, aber zielstrebige höhere Tochter der britischen Society, an der sie zu ersticken droht. Der Ruf der Ferne ist laut, die exotische Verlockung des Orients gespeist aus der exzessiven Lektüre von Dichtung und Reiseliteratur. „Read, read, read… read… and read!“, trichtert Werner Herzog jungen Filmschaffenden gerne ein.
„Queen of the Desert“ imaginiert folglich in angemessen orientalisierenden Operettenkostümen eine nie dagewesene Epoche, in der die „Aeneis“ des Vergil zur selbstverständlichen Verständigungsgrundlage im Beduinenzelt gehört, während die Mitglieder der diplomatischen Zirkel sinn- und verstandlos den Champagner aus Blumenvasen trinken. Der Film ist in diesem Sinne so etwas wie der feuchte Retro-Traum eines den Globus umrundenden Oberbayern, der eher Hölderlin und das abenteuerliche Herz eines Ernst Jünger im geistigen Gepäck hat, als ethnologische Klassiker. Man mag darin eurozentristische, auch verklärende Tendenzen sehen. Geschenkt, ist der weltläufig-romantische Exotismus Herzogs doch in jedem Moment von ganz anderer Art als jener eliminatorische Kolonialismus, der Churchill und Konsorten in der Anfangssequenz des Films das zerfallendene Osmanische Reich unter den Kriegsgewinnern aufteilen lässt. Denn wo jener die Fremdheit des Fremden als notwendigerweise auszuhaltenden Abgrund ausweist, dem alles Gemeinsame wie ein unverhoffter Zauber entsteigt, kennt letzterer nur Adäquation und Einebnung. Insofern ist „Queen of the Desert“ eine konsequente Fortschreibung der distanziert-involvierten Herzog-Dokumentarfilme der letzten Jahre, in denen er sich nicht von ungefähr bevorzugt an die Forscher und Expediteure – Experten der Fremde also – gehalten hat. Eine Schmonzette ist das, ein abgefingertes, vergilbtes Jugendbuch, unter der Bettdecke gelesen, wo die Welt so weit und schauerlich-schön ist, wie eben nur dort. (8/10)
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Der weirde Western
von Nicolai Bühnemann
Forum: „Umbango / The Feud“ (R: Tonie van der Merwe)
Südafrikanisches Vintage-Genrekino Nr. 2. Nach dem Blaxploitation-Rip-Off „Joe Bullet“ ein Western von 1986. Eine Texttafel zu Beginn erklärt, dass hunderte solcher Filme in den Siebzigern und Achtzigern in Südafrika entstanden, darunter auch eine Reihe von Western. Das allermeiste davon ist nach dem Ende der Apartheid verschwunden. Wo man „Joe Bullet“ noch irgendwie ansah, dass hier Neuland beschritten wurde, wirkt „Umbango“ komplett wie preisgünstigste Genre-Konfektionsware. Doch was der Film an handwerklichem Können vermissen lässt, macht er mit exquisiter weirdness wett. Ein Western auf Zulu, mit, von einer einzigen Ausnahme abgesehen, komplett schwarzem Cast. Dass das alles nicht zusammenpasst, lässt den Schauplatz zu einem Ort des Imaginären werden, wie es ihn nur im Kino geben kann.
Wie aber sieht dieser Ort aus? Zunächst einmal: verdammt trist. Hier vermitteln nur wenige Landschaftstotalen eine Idee von Freiheit und – vor allem – Frieden, bei der Mann ins Träumen kommt – von einem Haus, einer Familie, Kindern. Die allermeiste Zeit jedoch spielt der Film in einem Dorf, das aus quadratisch angeordneten Bretterverschlägen besteht, die nüchtern beschriftet sind: Saloon, Hotel, Bank, Sheriff, Blacksmith. Klaustrophobisch, vollkommen in sich geschlossen wirkt dieser Ort in seiner Playmobil-Haftigkeit.
Hier bekommen es Popo Gumede und Hector Mathanda als Jack und Owen mit dem Großgrundbesitzer KK zu tun, der mit Jack noch eine Rechnung offen hat, weil dieser seinen Bruder ins Gefängnis brachte. Jack, der eigentlich nichts weiter will als ein kleines Stück Land, das er mit seiner angebeteten Molly friedlich bewohnen kann, sieht sich ständiger Provokationen durch KK und seine Männer ausgesetzt – bis er ihn schließlich zum Duell fordert. (Übrigens ist dieser Oberschurke KK die Sonderbarkeit auf zwei Beinen mit seinem von Ferne an Hitler erinnernden Oberlippenbärtchen, seinen Glubschaugen und seinem röhrenden Lachen, das ihn bis in den Tod begleiten wird.)
Die bemerkenswerteste Szene gibt es relativ zu Beginn, wenn die einzige weiße Figur, von allen anderen nur abschätzig Gringo genannt, im Saloon von KK erschossen wird. Auch wenn es natürlich der Böse ist, der ihn erschießt, auch wenn diese Szene vielleicht dazu dienen mag zu zeigen, wie böse er ist, bietet sie dem afrikanischen Publikum doch eine Kompensationsphantasie an, die dem Rest des Films diametral entgegen zu stehen scheint. Ansonsten ist die Gewaltlosigkeit das Gebot der Stunde. Der Barkeeper und der Pianist hecken einen Plan aus, wie sie mit Gewehren den Saloon „befrieden“ können. Jack verwendet einen beträchtlichen Teil der Dialoge darauf, sich vor Molly und dem Zuschauer dafür zu rechtfertigen, dass er Gewalt anwenden muss, um sich gegen KK zu erwehren. Entschuldigend gibt er sich noch zum Schluss, als das Werk vollbracht ist.
Das Schöne an diesem Film ist vielleicht, wie sich in den Phantasieort, an dem er spielt, leise die Realitäten Südafrikas im Jahr 1986 einschleichen. Am offensichtlichsten natürlich darin, dass seine Ideologie der Gewaltlosigkeit das schwarze Publikum beschwichtigen sollte in einer historischen Situation, in der das Bestreben der weißen Eliten, das zum Himmel schreiende Unrecht der Apartheid aufrechtzuerhalten, das Land in einem Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt versinken ließ. Aber auch in den teils heftig vernarbten Gesichtern der Darsteller. Und in ihrer Sehnsucht nach einem Stückchen Land, das ihnen gehört. (7/10)
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Subtext ohne Protagonist
von Nicolai Bühnemann
Forum: „La maldad / Evilness“ (R: Joshua Gil)
In der Plansequenz, mit der der Film beginnt, ist minutenlang zu sehen, wie ein Feld abbrennt. Ein Regen aus schwarzen Halmen geht vor der Kamera nieder. Im Hintergrund sehen wir einen Berg im ersten Licht des anbrechenden Tages. Menschen kommen ins Bild, winzig neben den zum Himmel lodernden Flammen. Das Feuer schwillt gemeinsam mit den sphärischen Klängen auf der Tonspur an und verglüht schließlich. Rauch füllt das Bild. In der morgendlichen Stille ist das Gebell von Hunden zu hören. Schließlich sehen wir das Feuer an anderer Stelle, weiter hinten im Bild, wieder auflodern. Dazu erscheint riesig die Titeleinblendung: La maldad, zu Deutsch etwa: die Schlechtigkeit.
Der Bezug dieses Anfangs zum Rest des Films ist einfach. Mehr als um die Einführung des Schauplatzes, das ländliche Mexiko, mehr als um den symbolischen Gehalt des Feuers, das wie die Schlechtigkeit, kaum ist es an einer Stelle verglimmt, an einer anderen wieder auflodert, setzt die erste lange Einstellung den Maßstab für das genaue Hinsehen, das konzentrierte Beobachten, um das es in diesem Film geht. Die Protagonisten sind zwei alte Männer auf dem Land. Genau, sehr ruhig, in Einstellungen, die auch weiterhin lang bleiben, beobachtet der Film ihre alltäglichen Abläufe. Die Ernte auf dem Feld, wie sie sich Mais am Feuer braten, wie sie sich hinlegen, um ihren müden Gliedern etwas Ruhe zu gönnen, wie sie sich Wasser aus dem Brunnen holen, um sich zu waschen. Wie die faltigen Gesichter und Körper seiner Hauptfiguren, erforscht der Film auch die Landschaft, die ihren Lebensraum bildet. Der Wind, der in den Blättern und auf dem Wasser spielt, der Regen, der auf das Dach ihrer Hütte prasselt, die flackernden, surreal anmutenden Blitze eines nächtlichen Gewitters.
Einer von ihnen, Rafael Gil Morán, wie alle Darsteller ein Laie, der sich selbst spielt, beschreibt sich selbst als Komponist, Sänger und Schriftsteller. Er möchte einen Film über sein Leben drehen, in dem er in zwölf Liedern von verflossener Liebe erzählt. Weil es dafür Geld braucht, macht er sich auf den Weg nach Mexiko-Stadt, um im dortigen Filminstitut die Finanzierung zu regeln. Der alte Mann und die große Stadt mit ihrem hektischen Treiben, ihren überfüllten U-Bahnen und den ständig im Hintergrund klingenden Sirenen das sind zwei Welten in ein und demselben Land, die der Film immer wieder in ein und dieselbe Einstellung packt. Am Ziel seiner Reise im Filminstitut wird der alte, etwas schrullig wirkende Mann, beseelt von der Leidenschaft, sein Projekt zu verwirklichen, nur wie eine Störung im Getriebe der hiesigen Abläufe wahrgenommen.
Ein streckenweise faszinierender und – bei aller Zeigefreudigkeit – ordentlich enigmatischer Film, bleibt „La maldad“ doch in der Beziehung zu seiner Hauptfigur auf etwas problematische Weise ambivalent. Er möchte sich bedingungslos auf die Seite seines Protagonisten, auf die Seite der Peripherie und gegen das Zentrum stellen. Vielleicht ein wenig zu sehr, scheint er doch darüber zu vergessen, dass „La maldad“ eben nicht Rafael Gil Morans, sondern Joshua Gils Film ist, dass seine Art der Beobachtung immer einen – zweifelsohne faszinierten – Blick des Zentrums auf die Peripherie darstellt. So scheint auch der politische Subtext des Films den Protagonisten eher außen vor zu lassen. Bezeichnend dafür ist die letzte Szene, in der Gil Morán in eine Massenkundgebung im Regierungsviertel gerät – und nicht weiß, wie ihm geschieht. (6/10)
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Back in Action
von Nicolai Bühnemann
Forum: „Joe Bullet“ (R: Louis de Witt)
Ein fieser Gangster unternimmt allerlei blutige Intrigen, um den Fußball-Club Eagles um seinen sicheren Sieg in der Liga zu bringen. Es gibt nur einen Mann, der ihn aufhalten kann, der Mann, dessen Namensnennung reicht, damit die Bösewichter kalte Füße kriegen, der Mann, auf den die Frauen fliegen – oder sollte man sagen: die Frau? Denn mehr als eine einzige weibliche Nebenfigur leistet sich dieser Film nicht –: Joe Bullet. „He’s the man“ verkündet der Titelsong.
„Joe Bullet“ war 1971 der erste südafrikanische Film mit ausschließlich schwarzen Darstellern. Deutlich am US-amerikanischen Blaxploitation-Kino der Zeit im allgemeinen und an „Shaft“ im besonderen orientiert, versuchten Produzent Tonie van der Merwe und Regisseur Louis de Witt mit ihrem Film die schwarze südafrikanische Mehrheit als Zielgruppe zu erschließen. Auch wenn der Film keine erkennbare antirassistische Agenda hat, sich unpolitisch gibt, von der Darstellung einer klar in soziale Klassen unterteilten Welt einmal abgesehen, wurde er, nach wenigen Aufführungen in einem Kino in Soweto, vom Apartheidsregime verboten und verschwand in den Archiven. Erst jetzt wird er digital restauriert wieder zugänglich gemacht und ist im Forum der diesjährigen Berlinale zu sehen.
Der von Ken Gampu gespielte schwarze Superheld hat seine erste Szene in einer Autowaschanlage (übrigens ein wunderbarer, Kindheitserinnerungen triggernder Filmort). Näher zu sehen bekommen wir sein schweißüberströmtes Gesicht im Close-Up in einer Muckibude. Die Parameter der (Super-)Männlichkeit des Protagonisten sind gesetzt. Herzig ist der Film in der Einfältigkeit, mit der Bullet seinen Widersachern überlegen ist. Eine in seiner Wohnung deponierte Bombe wirft er einfach aus dem Fenster, wo sie, ein Auto arg in Mitleidenschaft ziehend, explodiert. Aus der Gefangenschaft, die Kinohelden wie ihn traditionell gegen Ende eines Films ereilt, befreit er sich mittels eines in der Schuhsohle versteckten Messers. Schön sind auch die Szenen, in denen sich die Inszenierung aus ihrer strikten B-Movie-Funktionalität befreit und zu kleinen stilistischen Kabinett-Stücken hinreißen lässt. Beim Kampf Bullets mit einem Gegner sind zunächst nur ringende Schatten auf dem Boden zu sehen. Es wiederholen sich Einstellungen, in denen die Kamera nur die Füße von Figuren zeigt. Zu Beginn dribbeln diese Füße einen Ball, gegen Ende gibt es nur eine Schuhspitze – leinwandfüllend.
Bei aller unfreiwilligen Komik ist „Joe Bullet“ ein rohes und faszinierendes Stück Kino – und ein Zeugnis einer vergessenen und größtenteils verlorenen Epoche der Filmgeschichte. (7/10)
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(Sämtliches Bildmaterial © Berlinale 2015)