Dem Korsen Mario geht es um den Lohn, 2000 Dollar immerhin. Auf unwegsamer Strecke muss er seinen Lkw, einen klapprigen 1943er Dodge, rückwärts auf eine ruinöse Holzbrücke manövrieren. Der Rest des morschen Gerüsts ragt sinnlos ins Nichts, darunter eine tiefe Schlucht. Der Beifahrer Jo, entnervt, will aus dem Geschäft aussteigen: „Verdrücken wir uns!“ Mario sagt nur: „Ganz langsam zurück, dann mit Vollgas raus.“ Jo stochert mit dem Taschenmesser in einer faulen Planke: „Das ist Schwamm, kein Holz.“ Mario: „Wir werden das Kind schon schaukeln.“ Er schwingt sich ins Führerhaus, klemmt sich hinters Lenkrad. „Ich kenne die Gefahr“, sagt Jo. „Du kannst Dir nicht vorstellen, was sein könnte. Aber ich warte dauernd auf den Punkt.“ Wer auf ruppiger Piste, im verkarsteten, von der Sonne ausgezehrten Bergland Venezuelas, einen Zehntonner mit Nitroglyzerin durch die Gegend chauffiert, wartet von Sekunde zu Sekunde „auf den Punkt“. Jo stammt aus Paris, auf seine alten Tage würde er gern etwas Geld in ein kleines Bistro investieren. Aber er hat ein Problem: das nervenzermürbende Warten darauf, dass etwas passieren könnte – auf den Moment, in dem etwas Furchtbares geschieht.
Ganz nebenbei hat Jo damit definiert, wie Spannung im Film funktioniert. Bequem im Kinosessel sitzend, lauern wir „auf den Punkt“, in diesem Fall auf den Augenblick, in dem die Karre in den Abgrund saust und die ganze Ladung in die Luft fliegt. Noch ist dieser Punkt nicht erreicht, die Katastrophe lässt sich Zeit, die Sekunden scheinen zu schleichen, als sei es ihnen zu heiß. Zentimeter um Zentimeter manövriert Mario den Dodge auf den Abgrund zu. Unmittelbar vor dem Abgrund steht eine rostige Lore, und vor der Lore steht Jo. Jo ruft etwas, Mario versteht ihn nicht. Jo presst den Rücken gegen die Lore und die Hände gegen das Vehikel, während das ächzende Ungetüm im Rückwärtsgang auf ihn zu kriecht und seinen Brustkorb zu zerquetschen droht.
Spannung im Kino ist etwas anderes als die An-spannung des Helden, der unter Lebensgefahr Entscheidungen treffen und handeln muss. Wir im Kino können uns sehr gut vorstellen, was passieren könnte, wir warten darauf, dass es passiert, und zugleich beobachten wir Jo, der von seiner Angst regelrecht zerrieben wird. Wir genießen das Privileg, uns mit Jo zu identifizieren – uns in ihn einzufühlen, ohne an seiner Stelle zu stehen und für ihn handeln zu müssen. Doch wenn ein Film so meisterlich montiert ist wie „Le salaire de la peur“ (1953), wenn eine Kamera die Situation und die Emotionen so perfekt in ihre Bauteile zerlegt wie die von (Armand Thirard), wenn uns zwei Schauspieler so in ihren Bann ziehen wie Yves Montand und Charles Vanel – dann entsteht das Phänomen, dass sich die Differenz zwischen Spannung und Anspannung, zwischen dem Leiden der Handelnden und dem Mitleiden der Zuschauer verringert. Dann tritt das Kino in eine andere Dimension.
Manche Kritiker ergingen sich 1953 in philosophischen Betrachtungen, und noch 1987 schrieb Georg Seeßlen, Henri-Georges Clouzots Film sei „der existentialistische Abenteuer-Thriller par excellence“. Das mag so sein, vor allem aber ist dies ein Film, der hinter seiner existentialistischen Botschaft nicht versteckt, dass er zuallererst ein atemberaubender Thriller ist und uns Zuschauern das Vergnügen bereitet, ein nervenstrapazierendes Wechselbad der Gefühle zwischen Angst und Hoffnung durchzustehen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin
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