Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt’s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter Kern in Hans W. Geissendörfers „Sternsteinhof“ (1975) nicht nur eine seiner wenigen größeren, sondern auch eine seiner wenigen dramatischen Rollen. Bekannt wurde Kern vor allem durch seine kleineren Auftritte bei fast allen, die im Neuen Deutschen Film Rang und Namen hatten. Wie Elfriede Jelinek es formulierte: „Er kommt immer vor. Aber mehr auch nicht.“ Und Toby Ashraf bezeichnet seinen fetten Körper, der durch dieses Vorkommen zu seinem Markenzeichen wurde, als den „Körper des Neuen Deutschen Films“. In Rainer Werner Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ war er der Florist Fatty, der Franz Biberkopf (Fassbinder) den Lottoschein verkaufte, der weitreichende, schließlich fatale Folgen für ihn haben sollte. In Ulrike Oettingers „Johanna D’Arc of Mongolia“ bittet er in der transsibirischen Eisenbahn zuerst fürstlich zu Tisch, später dann auch zu Gesang und Tanz. Später war er dann unter anderem auch in Christoph Schlingensiefs „United Trash“ und „Terror 2000“ und in Rosa von Praunheims „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ zu sehen. Das Vorkommen behielt Kern auch in seinen eigenen Filmen als Regisseur bei. In vielen der knapp dreißig Filme, die er seit den Achtziger Jahren gedreht hat, hat er kurze Cameos.
Schon sein Spielfilm-Debüt „Crazy Boys – Eine Handvoll Vergnügen“ zeigte nicht nur seinen Willen, neue Wege zu beschreiten, neue Perspektiven zu wählen, sondern gibt auch Aufschluss darüber, warum eine Kerns Schaffen gewidmete Reihe den Namen „Schauplatz Körper“ trägt. Zu einem der Hauptschauplätze des Films werden die Körper vierer Männer, die in einem Strip-Lokal nur für Frauen arbeiten. Kern greift nicht nur Filmen der Gegenwart, die sich mit der Prostitution von Männern beschäftigen, wie „Magic Mike“ oder „Paradies: Liebe“ um fast dreißig Jahre vor, er spielt in schrillen Achtziger-Jahre-Dekors und -Klamotten auch alle Implikationen der Konstellation von „Freierinnen“ und Sexarbeitern, weiblichem Subjekt und männlichem Objekt des begehrenden Blickes durch. Von der Degradierung zum (Sex-)Objekt, über die kurze Halbwertzeit, die auch Männer in diesem Gewerbe haben, bis zu den Schwierigkeiten, Geschäft und Liebe auseinanderzuhalten.
Szene aus „Gossenkind“ (foto: © filmgalerie 451)
Verlief das wilde Treiben in „Crazy Boys“ weitgehend in gängigen komödiantischen Bahnen, ist Kerns dritter Film, „Gossenkind“ (1992) ein einigermaßen konventionelles Sozialdrama. Aber der Regisseur nutzt das Genre, um Unerhörtes zu erzählen. Oder eher: Unsichtbares sichtbar zu machen, dorthin zu sehen, wo alle anderen weggucken. Es geht um die Beziehung eines Familienvaters (Winfried Glatzeder) zu Axel, einem vierzehnjährigen Stricher mit markanter Elvis-Tolle. Das Skandalon daran ist Kerns Weigerung, sich ein Urteil über diese Liebe zu erlauben, die eines der letzten Tabus in einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft darstellt, wie sie der Film skizziert. Dem Milieu wie aus einem Horrorfilm, aus dem Axel stammt, steht ein Bürgertum gegenüber, das verlogen ist bis zur Persönlichkeitsspaltung.
Sowohl das Thema Sexarbeit als auch die unmögliche Liebe bilden Konstanten in Kerns filmischem Schaffen. „Domenica“ (D 1993) entstand „basierend auf Motiven von Erzählungen“ von Domenica Nierhoff, die es durch ihren Weg von der Prostituierten zur Sozialarbeiterin als „Hure mit dem goldenen Herzen“ in diversen Talkshows zu einiger Bekanntheit brachte. Zwischen der realen Nierhoff, die beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, und dieser fiktiv nacherzählten Geschichte liegt in Kerns Film nur ein einziger Kameraschwenk. Lukas Foerster schreibt, der Film rolle „anhand der Biographie Niehoffs die gesamte Geschichte der Bundesrepublik“ auf.
„Jeder kriegt sein Fett weg“ heißt eine DVD-Edition der Filmgalerie451, die einige Filme Kerns zugänglich macht. Einerseits natürlich eine weitere Anspielung auf den Leibesumfang des Filmemachers, ist es andererseits auch als Anspielung auf seine politische Radikalität zu verstehen, die vor niemandem Halt macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Mockumentary „April 2021 – Haider lebt“ (2002). Ein deutsches Fernsehteam um August Diehl macht sich im von den USA besetzten Österreich des Jahres 2021 auf die Suche nach dem ehemaligen, angeblich toten Kanzler Jörg Haider (zur Zeit des Filmdrehs war Haider wieder Regionalpolitiker; dass er es 2008, wenige Monate vor seinem Tod, bei der Bunderatswahl mit seiner rechtspopulistischen BZÖ auf immerhin 10,7 % schaffte, gibt dem Film einen beinahe prophetischen Anstrich). Neben anderen Höhepunkten aus der Welt der Politik trifft Diehl auch im „Arbeiterheim Helenenthal“ auf die senilen Reste der österreichischen Sozialdemokratie, deren Widerstand sich auf die Erinnerung an ein missglücktes Attentat auf Haider, das Rauchen von Joints und das Singen der „Internationale“ beschränkt.
Kerns Filme wurden oft mit winzigen Budgets gedreht, sahen aber wesentlich teurer aus, als sie tatsächlich waren. In „Blutsfreundschaft“ (2009) geht es um die Liebe eines achtzigjährigen Nazi-Gegners zu einem achtzehnjährigen Neo-Nazi. Aus diesem Plot macht der Regisseur einen Film, formal mitunter an die rohe Unmittelbarkeit des Exploitation-Kinos gemahnend, der in fast epischem Ausmaß von dem schizophrenen Umgang mit Homosexualität unter alten und neuen Nazis, der Verwicklung in alte und neue Schuld und der Kraft der Vergebung erzählt.
Szene aus „Sarah und Sarah“ (foto: © filmgalerie 451)
Um eine Schicksalsgemeinschaft gesellschaftlicher Außenseiter und die sich anziehenden Gegensätze Jung und Alt geht es auch in Kerns vorletztem Film „Sarah und Sarah“ (2013). Die beiden titelgebenden Sarahs sind eine über achtzigjährige Frau, die einst in Nazi-Propagandafilmen mitspielte, und ein krebskranker Junge, dem nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Die Welt des Films, erstmals im Schaffen Kerns in Schwarz-Weiß und im Cinemascope-Format gefilmt, wird unter anderem bevölkert von dubiosen Pharma-Vertretern („Wir sind christlich, sozial und beherrschen den Markt.“), eifrigen Gerichtsvollziehern („Es hat wenig Sinn, sich vor der Exekutive zu verbergen.“) und sensationsgeilen Reporterinnen („ÖRF, immer objektiv.“). Eine an Skurrilität schwer zu überbietende Jahrmarktsszene und ein Kruzifix im Klo gibt es auch. Im Kern aber geht es Kern nicht um den Tabubruch an sich, sondern darum, den alten und den sterbenden Körper sichtbar zu machen, und sie damit von dem Tabu zu befreien, mit dem sie die Gesellschaft belegt.
„Schauplatz Körper: Tribute to Peter Kern“ hieß eine Veranstaltung, die, mitinitiiert von der Filmgalerie 451, vom 14. bis zum 18. August im Berliner Kino Arsenal anlässlich von Kerns 65. Geburtstag, vor allem den Filmemacher Peter Kern ehrte. (Übrigens hatte Kern mit dem Wort „Tribute“ seine Probleme, weswegen er die Veranstaltung in einer Radiosendung kurzerhand in „Triumph für Peter Kern“ umtaufte, was an den vier Abenden im Arsenal als running gag herhielt.). Zu sehen waren „Sternsteinhof“, „Crazy Boys“, „Domenica“ und „Sarah und Sarah“. Das üppige Rahmenprogramm beinhaltete Grußworte (u. a. das oben zitierte von Elfriede Jelinek), Publikumsdiskussionen und diverse Filmausschnitte. Das breite Medienecho und die teilweise regelrecht euphorische Aufnahme Kerns und seiner Filme im stets gut gefüllten, großen Saal des Arsenals zeigen die Bereitschaft, mit Peter Kern einen widerspenstigen Geist im deutschen wie im österreichischen Filmbetrieb neu- oder wiederzuentdecken, dessen Werk leider aufgrund rechtlicher Probleme zu großen Teilen schwer zugänglich ist.
(Portrait von Peter Kern: © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)