Am 26. April 2013 wurde Werner Herzog mit dem Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Über den Stellenwert eines egozentrischen Sonderlings und seinen Beitrag zum europäischen Gegenwartskino.
„The surface is misleading“, rechtfertigte der Regisseur David Lynch einmal die Diskrepanz zwischen seinem düsteren, surrealen Werk und seiner freundlichen, außerordentlich „normalen“ Art – eine Erklärung, die auch auf seinen Kollegen Werner Herzog passen könnte. Erwägt man nur die Fassade Herzogs, entsteht schnell der Eindruck des kauzigen Deutschen, der als Exot in Los Angeles lebt und sich in Interviews oder kleinen Schauspielrollen als Exzentriker geriert. Irrlichternd existiert er in seinen Filmen und gibt sich immer ein wenig weltfremd, ja fast außerirdisch. Infolge dieser Selbststilisierung wird Herzog sogar unter seinen Anhängern manchmal nicht ganz ernst genommen, gerne für Parodien herangezogen und entweder als Wahnsinniger oder als Witzfigur verklärt. Die Vergabe des deutschen Filmpreises an Herzog unterstreicht jedoch, dass unter der Oberfläche der medialen Repräsentation einer der faszinierendsten Regisseure der Gegenwart steckt, dessen Werk eine einzigartige Aura ausstrahlt.
Am Grunde von Herzogs Schaffen steht das Gefühl der Halbherzigkeit, das beim Betrachten von ausgewaschenen Motiven aus Werbung, Postkarten, Fernsehen oder Reisekatalogen aufkommt; es bildet die Prämisse für eine obsessive Suche nach Bildern, die „unserer Zivilisation angemessen sind“. Für Herzog geht vom Status Quo der inadäquaten, weil unendlich oft widergekauten Bilder eine Gefahr aus, die er mit jener eines atomaren Unfalls oder heilloser Überbevölkerung gleichsetzt. Wenn wir nicht bessere, ungesehene Bilder finden, so Herzog, „werden wir aussterben wie Dinosaurier“. Das aus diesen Aussagen hervorgehende Gefühl von Dringlichkeit bringt ihn dazu, die nicht von der Hand zu weisenden Qualen des Filmemachens immer wieder auf sich zu nehmen. Viele von Herzogs Filmen, vor allem sein Frühwerk, fallen in die Kategorie der Low- oder gar No-Budget-Produktionen und gingen oft mit erheblichen Produktionsschwierigkeiten einher. Grausame Unfälle, unverhoffte Gefängnisaufenthalte oder plötzliche, schwere Erkrankungen hätten andere vielleicht für immer abgeschreckt. Herzog jedoch scheint sich mit diesen extremen Bedingungen gut arrangieren zu können, ja das Filmemachen ist für ihn per definitionem ein außerordentlich körperliches Handwerk. „Filmemachen kommt nicht von abstraktem, akademischem Denken“, statuiert er, „es kommt aus den Schenkel und Hüften. Und aus der Bereitschaft, 20-Stunden-Tage durchzuarbeiten“. Die Präferenz von Athletik gegenüber Ästhetik entstammt wohl Herzogs persönlicher Affinität zu sportlicher Betätigung. Neben Fußball und Skispringen in seiner Jugend ist das Gehen von entscheidender Bedeutung; die Bewegung in der Landschaft scheint für sein Schaffen gar so wichtig, dass er, wie er sagt, lieber ein Auge als ein Bein verlieren würde. Würde er ein Bein verlieren, dann würde er sofort aufhören Filme zu machen, denn physisch fordernde Räume wie der Dschungel Südamerikas, die Antarktis, oder französische Höhlen, also Orte, an denen er sich abarbeiten kann, gegen die er antreten kann, scheinen für die Inkubation von Herzogs Filmen essentiell zu sein.
Dennoch, so wird er nicht müde zu betonen, geht es ihm nicht um Abenteuer, um das Ausgeliefertsein oder den Thrill; es geht darum, vor Ort eine Intensität zu finden, die sich durch mühsame und oft auszehrende Arbeit auf die Leinwand übertragen lässt. Sein Kino brauche die Umwelt als etwas, auf das es reagieren kann, denn nur in natürlicher Umgebung können die benötigten Reibungen passieren, die seine Filme letztendlich zur Entfaltung bringen. Mag sein, dass Herzog mit dieser Herangehensweise in seiner Karriere stellenweise die Grenzen der Vernunft überschritten hat (für die Dokumentation „La Souffrière“ ist er auf die damals evakuierte Insel La Gouadeloupe geflogen, um im Angesicht einer verheerenden Vulkanexplosion die letzten verbliebenen Einwohner zu treffen), aber diese raren Negativbeispiele sollten nicht über den Mut und die Konsequenz hinwegtäuschen, mit der er seine Suche nach ungesehenen Bildern betreibt. Nicht nur, dass er auf allen Kontinenten inklusive der Antarktis gedreht hat, sogar das All hat er ernsthaft in Betracht gezogen – an Bord eines NASA Raumschiffes wäre er, hätte man ihn gelassen, der erste Filmemacher in der Schwerelosigkeit gewesen – welcher andere Regisseur kann sich schon solche Furchtlosigkeit attestieren?
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Die Ekstase der Wahrheit
Wenn in „Fitzcarraldo“ das berüchtigte Boot von hunderten Statisten im Film über einen zuvor entwaldeten Hügel im Amazonas Gebiet gezogen wird, kann man die Reibung zwischen Herzogs Fiktion und dem harten Untergrund der Realität in eindrucksvoller Intensität wahrnehmen. Die Qualen und Rückschläge, die der Regisseur im Zuge dieser Mammutaufgabe drei Jahre lang ertragen hat, sind in der Filmgeschichte wohl einzigartig, und doch illustriert dieses Martyrium anschaulich, wie sehr sich diese physisch extremen Sysiphos-Torturen bezahlt machen können. Das Bild des ohne jeden Spezialeffekt über den Berg wandernden Bootes, das sich schließlich für immer ins Gedächtnis jedes Zusehers gebrannt hat, wird Herzogs Suche nach nie zuvor erblickten Bildern mehr als jedes andere gerecht. Zudem ist es einer jener Momente, in denen er an das Unerklärliche stößt, an etwas, das über die blanke, faktische Realität hinausgeht. Herzog charakterisiert diese mysteriösen Augenblicke als die „Ekstase der Wahrheit“ (the ecstasy of truth), als Momente, die den Zuseher illuminieren, zutiefst berühren oder in fast religiöser Manier erfüllen. Diese erhebende Erfahrung ist, „was uns Kino im besten Falle geben kann. Es ist ein fernes Ziel und kaum jemals zu erreichen, aber es ist wonach ich suche“. Um diese Absicht innerhalb jener Arenen, die der Regisseur sich an seinen Drehorten aufbaut, zu erfüllen, versucht er konsequent, mit seinen Inszenierungen neue Wege zu beschreiten.
Szene aus „Fitzcarraldo“ (Foto: © arthaus)
Das Kernmerkmal seiner Regie ist das Verwischen der Grenzen von Dokumentation und Spielfilm: Einerseits involviert er in seine Spielfilme oft Bevölkerung, die beim Dreh vor Ort anzutreffen ist (also beispielsweise die Ureinwohner in „Fitzcarraldo“), gibt kompletten Laiendarstellern gar die Hauptrolle (Bruno S. in „Stroszek“) oder bindet seine Filme sehr stark an reale Qualitäten der Landschaft. Andererseits bricht er, in konsequenter Opposition zur cinéma verité Bewegung, die Regeln des Dokumentarfilms und redefiniert dessen Form: Er legt den Dargestellten Sätze in den Mund, probt diese und wiederholt die Szenen wie im Spielfilm; so lange, bis eine von ihm fabrizierte und stilisierte Wahrheit zur Geltung kommt. „Objektivität existiert ohnehin nicht“, verlautbart Herzog, „und ich möchte keinen objektiven Film machen.“ Anstatt sich wie die von Dokumentaristen wie Frederick Wiseman propagierte Fliege an der Wand zu verhalten, die die Realität vor der Kamera in keinster Weise stören möchte, versucht Herzog das glatte Gegenteil zu sein, nämlich „eine Hornisse, die zusticht“. Diese Haltung ist sicher ein Eckstein von Herzogs Bedeutung für das Kino; in einer Zeit, wo die spurenlose, digitale Manipulation von Filmmaterial mit jedem Durschnittscomputer durchgeführt werden kann, wo die Mutabilität der Filmkunst im Kern eingeschrieben ist, wirkt Herzogs Attitüde, die alt gewordene Ansprüche auf Objektivität hinter sich lässt, erfrischend und konsequent. Sie führt letztendlich dazu, dass der Zuseher eine von Herzog offen und ehrlich empfundene Wahrheit betrachten kann, und macht keinen Hehl daraus, dass jeder Dokumentarfilm am Ende nicht eine Betrachtung von ungestörter Wirklichkeit ist, sondern ähnlich wie der Spielfilm ein stilisiertes Kunstprodukt, das aber die Fähigkeit besitzt Wahrheit jenseits von Fakten zu kommunizieren. Diese Loslösung von der blanken Realität ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal Herzogs: In fast amerikanischer Tradition lässt er auch in seinen Spielfilmen die blanke Realität hinter sich, porträtiert eine Dorfgemeinschaft beispielsweise mit hypnotisierten Darstellern, besetzt einen Film nur mit Kleinwüchsigen oder zieht eben Schiffe über einen Berg. Es ist nicht verwunderlich, dass Herzog in Deutschland respektive Europa in der Vergangenheit für seine Orientierung in Richtung aggressiver Inszenierung oft weniger gut aufgenommen wurde und schließlich seinen Wohn- und Arbeitssitz nach Los Angeles verlegte, durchkreuzt er mit seinen Ansichten doch die ewig-realistische Tradition des europäischen Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg.
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Herzog als geheimer Protagonist
Herzog ist sich dieser inszenatorischen Einzigartigkeit mehr als bewusst und scheut nicht davor zurück, offen darüber zu sprechen. In Herzog-typischer Manier verglich er sich hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Position einmal gar mit Franz Kafka: Ähnlich wie Kafka beackere er im Verborgenen den Kern unserer Zivilisation, präge und verstehe als einer der wenigen unsere Zeit. Er sehe sich aber nicht als Außenseiter – ganz im Gegenteil: „Ich bin der absolute Mittelpunkt. Alle Anderen sind Außenseiter. Ich besetze die Mitte, alles um mich herum wirkt eher bizarr und marginal.“ Will man Werner Herzogs Werk in seiner Gesamtheit verstehen, ist diese fast naive Egozentrik, dieses überbordende Selbstbewusstsein der entscheidende Schlüssel: Nicht nur gab ihm dieser unerschütterliche Selbstglaube die Kraft, schier unmenschliche Zerreißproben durchzustehen und seine Filme gegen alle Widerstände durchzusetzen, auch thematisch spielt seine eigene Person in seinem Werk eine nicht zu unterschätzende Rolle. Bei genauem Hinsehen bemerkt man die autobiographischen Aspekte, die in die Figuren seiner Filme einfließen, unabhängig ob in Spielfilm oder Dokumentation. Graham Dorrington, der Protagonist der Dokumentation „The White Diamond“, erinnert mit seiner von manischen Visionen inspirierten Mission in den Tiefen des südamerikanischen Dschungels doch stark an Herzogs Erfahrungen mit der Produktion von „Fitzcarraldo“.
Szene aus „The Dhite Diamond“ (Foto: © arthaus)
In ähnlicher Weise spiegelt sich Herzog in Timothy Treadwell, der Hauptfigur von „Grizzly Man“, vor allem in dessen Bedürfnis sich durch das Filmemachen eine künstlerische Identität zu erschaffen und die Welt durch seine Kamera wahrzunehmen. Über die Figur Fitzcarraldo sagt Herzog im Audiokommentar der DVD, dass er fast Kinskis Rolle übernommen hätte, dass er sich in manchen Momenten sogar wie ein Alter Ego Fitzcarraldos fühlt; eine Behauptung, die auch auf den Skispringer Walter Steiner aus „Die Große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ zutreffen könnte. Herzog steht als geheimer Protagonist in der Mitte seines Werkes; alles fängt bei ihm an und hört mit ihm auf. Aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Geschichten produziert er kontinuierlich Filme, und erweitert mit jedem Neuzugang seine Persona um ein zusätzliches Segment. Am Ende ist Herzog nicht bloß „the good soldier of cinema“, als der er sich einmal bezeichnet hat – ein guter Soldat, der dem Kino selbstlos-disziplinierte Dienste inmitten des immer substanzloser werdenden Mainstreams geleistet hat – er ist auch selbst zu einer in seinen Filmen verewigten Kunstfigur geworden, die immer deutlicher aus dem Werk hervorragt. Natürlich geht mit diesem Phänomen die Versuchung einher, Herzog auf seine kuriose Selbstsicherheit oder auf sonstige sonderbare Qualitäten seines Auftretens zu reduzieren, um in der Folge nur seinen eingeübten Gestus und nicht das dahinterstehende Oeuvre von über sechzig Filmen wahrzunehmen. Widersetzt man sich jedoch der Verlockung und versteht seine stilisierte Persönlichkeit eher als Schlüssel zu seinem Schaffen, findet man Zugang zu einem der komplexesten Werke des Gegenwartskinos, das völlig zu Recht mit der höchsten Ehrung der deutschen Filmförderung ausgezeichnet wird.