Zu Beginn des Films übt die junge, sehr talentierte Tennisspielerin Julie (Tessa Van den Broeck) allein und ohne Racket und Ball, während die imaginären Aufschläge in der sonst leeren Halle deutlich zu hören sind. Etwas fehlt oder ist verloren gegangen. Bei ihren „Trockenübungen“ spielt die etwa 16-jährige Schülerin gewissermaßen gegen sich selbst. In ihrem Leben dreht sich alles um den Sport. Doch seit ihr Trainer Jeremy (Laurent Caron) ohne Angabe von Gründen von der Vereinsführung suspendiert wurde, geht ein Riss durch ihre Welt. Eine gleichaltrige Spielerin, die ebenfalls von Jeremy trainiert wurde, hat sich das Leben genommen. Das wirft Fragen auf und führt zu Verunsicherungen unter den Mitspielerinnen im Team. Offensichtlich wird der Trainer aufgrund seiner fordernden Methoden mitverantwortlich gemacht. Oder kam er dem Mädchen auf andere Weise zu nahe? Denn auch Julie, die unter Jeremys Abwesenheit leidet, scheint in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm zu stehen. Doch während Gerüchte kursieren und unauffällig ermittelt wird, bleibt das meiste unausgesprochen. Und Julie, die wiederholt befragt wird, und die etwas mit sich herumträgt, worüber sie aber nicht sprechen will, schweigt.
Für die Heldin von Leonardo van Dijls beeindruckendem Debütfilm „Julie bleibt still“ („Julie zwijgt“) ist das Schweigen zunächst ein Schutz, der sie zwar isoliert, aber auch autonom und unangreifbar macht. Immer wieder beteuert das Mädchen: „Es ist alles in Ordnung“; oder sagt: „Ich will nicht darüber sprechen.“ Der Film verstärkt diese Isolation und Selbstbezogenheit noch, indem er sich mit großer Konzentration auf die Protagonistin fokussiert und dabei ihr Umfeld beim Training oder bei Gesprächen in einem Unschärfebereich belässt. Die fast farblosen, kontrastarmen Bilder unterstreichen zusätzlich das Undeutliche und Unscharfe des Geschehens sowie das Geheimnis der introvertierten Heldin. Mit ihrer athletischen Figur und ihrem starken Willen ist Julie eine ehrgeizige und disziplinierte Spielerin, die jedoch nicht bevorzugt werden will. Der belgische Regisseur entwickelt aus ihrer starken Präsenz einen sehr körperlichen Film, der seinerseits nicht alles ausspricht, sondern durch Ellipsen Denkräume schafft und Spekulationen zulässt.
Mit ihrem Schweigen wehrt sich Julie auch gegen den Druck, sich anzupassen und Erwartungen zu erfüllen in einem Sport, der durch sein Leistungsdiktat förmlich umstellt ist vom Zwang zur Konformität und den auch psychisch gelenkten Mechanismen des Erfolgs. „Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir sprichst“, bekommt Julie einmal mehr oder weniger subtil zu hören. Dabei zeigt sie sich durchaus kooperativ und aufrichtig. Doch ihren Weg des Schweigens, der schließlich zu einer inneren Befreiung und zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins führt, will und muss sie allein gehen. Indem Leonardo van Dijl in Andeutungen erzählt, lässt er seiner bemerkenswert selbständigen Heldin die Freiheit, die sie für ihre Entwicklung braucht. Vielleicht spielt deshalb die Vogel-Metapher sowohl in ihrem nach den Schwalben benannten Club „Les Hirondelles“ als auch im Theaterstück, das sie für ihren Deutschkurs einübt, eine auffällig hervorgehobene Rolle. Denn dort sagt sie mit charmantem Akzent den Satz: „Ich fühle mich wie ein Vogel in der blauen Luft.“ Und dieser Satz deutet schließlich auf eine Befreiung, die Julie Gutes verheißt.