Sing Sing

(USA 2023; Regie: Greg Kweda)

Menschlich werden durch Kunst

Weiße Stofffetzen hängen lose vom blau beschienenen Bühnenhimmel herunter und erzeugen eine magische Atmosphäre, während der Schlussmonolog aus Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ an das wandelbare Glück erinnert. Dann beschließt Applaus den nachdenklichen Moment und der Schauspieler, der bis dahin nur von hinten zu sehen war, zeigt nun sein Gesicht. Kurz darauf wird klar, dass diese Aufführung hinter den Mauern des Hochsicherheitsgefängnisses Sing Sing unweit von New York stattfand. Denn John Whitfield (Colman Domingo), der „Divine G“ genannt wird, und seine schauspielernden Kameraden müssen kurz darauf zurück in ihre engen Zellen. Hintereinander aufgereiht, stehen sie in einem langen Flur.

Der Gegensatz und die Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft grundieren auf verschiedenen Ebenen Greg Kwedars Film „Sing Sing“. Die Blicke nach draußen markieren immer wieder die schmale und doch unüberwindliche Grenze zu einem normalen Leben. Vergitterte Zäune rastern das Sichtfeld; der Hudson River sowie hohe Stacheldrahtzäune umschließen das Areal. Zwischen den Drähten sitzt ein kleiner Vogel: Dieses Bild wird zur Metapher für einen existentiellen Widerspruch.

„Divine G“ lebt in diesem Dilemma, seit er zu Unrecht inhaftiert wurde. Doch der kluge und zugewandte Familienvater engagiert sich als Autor und Schauspieler. Er berät Mithäftlinge in Rechtsfragen und ist seit langem Teilnehmer im RTA (Rehabilitation Through Art)-Programm, das den Gefangenen helfen soll, sich selbst und die eigenen Gefühle zu erforschen, um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. „Bruder, wir sind hier, um wieder menschlich zu werden“, heißt es einmal über die verwandelnde Kraft der Kunst. Unter dem Leitspruch „Vertraue dem Prozess!“ unternehmen die Teilnehmer in ihren Improvisationen und Übungen individuelle Gefühlsreisen, um Verborgenes und Verdrängtes in sich zu entdecken und auszudrücken. Es sei wichtig, sich ehrlich und verletzlich zu zeigen, um ein Gefühl für Empathie aufzubauen, sagt der Regisseur Brent Buell (Paul Raci), der die Gruppe behutsam und zurückhaltend anleitet.

Als der schroff und innerlich unausgeglichen wirkende Drogendealer Clarence „Divine Eye“ Maclin, der sich selbst spielt, dem Projekt beitritt und für die ausnahmsweise Aufführung einer Komödie plädiert, verschiebt sich zunächst das labile Gleichgewicht innerhalb der Gruppe. Vor allem die Beziehung zwischen ihm und dem fürsorglichen „Divine G“, der selbst schwere Rückschläge erleiden muss, während er anderen hilft, steht unter Spannungen. Diese lösen sich jedoch allmählich, je mehr sich die beiden einander öffnen und ihren Schmerz teilen. Ihr Austausch führt schließlich zu einer Annäherung und zu einer vorsichtigen Freundschaft im Zeichen eines ambivalenten Freiheitsversprechens.

Regisseur Greg Kwedar hat sich für seinen authentisch wirkenden, emotional kraftvollen Film von realen Geschichten und Schicksalen ehemaliger Häftlinge und RTA-Teilnehmer inspirieren lassen, die sich teilweise wiederum selbst spielen, was „Sing Sing“ besonders stark macht. Einmal kehrt einer von ihnen als Besucher ins Gefängnis zurück, um von den (kleinen) täglichen Freuden der Freiheit, aber auch von Schmerzlichem zu erzählen. Die Welt jenseits der Mauern bleibt ambivalent; und der von widersprüchlichen Gefühlen umstellte Weg zu den Versprechungen der Freiheit erfordert Mut, Kraft und Durchhaltewillen.

Sing Sing
USA 2023 - 107 min.
Regie: Greg Kweda - Drehbuch: Clint Bentley, Greg Kwedar - Produktion: Clint Bentley, Greg Kwedar, Monique Walton - Bildgestaltung: Pat Scola - Montage: Parker Laramie - Musik: Bryce Dessner - Verleih: Weltkino - Besetzung: Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San Jose, Paul Raci, Mosi Eagle
Kinostart (D): 27.02.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/de/title/tt28479262/
Foto: © Weltkino