Der schöne Sommer

(IT 2023; Regie: Laura Luchetti)

Liebe im Faschismus

Die etwa 17-jährige Ginia (Yile Yara Vianello) blickt neugierig in die Welt und ist fast immer in Bewegung. Nur in dem Turiner Modeatelier, einem großen, gläsernen Bau, wo sie mit geschickten Händen und eigenen Ideen für Entwürfe als Schneiderin arbeitet, herrscht eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Dabei ist Ginia, die auf dem Land aufgewachsen ist, ebenso zurückhaltend, ernst und strebsam wie offen und mutig. Als stille Beobachterin des Lebens wirkt sie überraschend selbstbewusst und innerlich ausgeglichen. In der Liebe noch unsicher, sehnt sie sich nach neuen Erfahrungen. Sie solle „nicht vergessen, wer wir sind“, sagt ihr jüngerer Bruder Severino (Nicolas Maupas) zu ihr. Mit dem literarisch ambitionierten, aber schwankenden und hadernden Studenten bewohnt sie zusammen eine kleine Wohnung. Als sie an einem See bei einem Picknick unter Freunden die schöne Amelia (Deva Cassel) kennenlernt, die für Maler Modell steht, wächst in Ginia stetig ein Liebesbegehren. „Ich möchte, dass mich jemand ansieht und mir zeigt, wer ich bin“, sagt die junge Frau, als bedürfe sie eines anderen, um sich selbst zu erkennen.

Fortan wechselt die Szenerie, die im faschistischen Italien des Jahres 1938 angesiedelt ist, beständig zwischen der Arbeit in der Schneiderwerkstatt und den genuss- und lustvollen Vergnügungen in Künstlerkreisen, in die Ginia durch die verführerische Amelia eingeführt wird. Laura Luchetti entwickelt in ihrem Film „Der schöne Sommer“, der nach dem gleichnamigen Roman von Cesare Pavese entstand, eine sehr ruhig und bedächtig erzählte Éducation sentimentale. Trotz des historischen Settings, das in einer ungetrübten, ausgewogenen Farbigkeit leuchtet, streift sie die politischen Zeitläufte – wenn auch unmissverständlich – doch nur am Rande. Stattdessen zeigt sie ein noch relativ ruhiges Leben sowie Zusammenkünfte der Freunde und Bohémiens bei Festen in idyllischer Natur. Denn Luchetti interessiert sich vor allem für die innere, zunehmend komplizierte Gefühlsreise ihrer Heldin, die zwischen Lust, Vorsicht und Abwehr ihren Körper und die Liebe entdeckt. Dabei konzentriert sich die italienische Regisseurin auf bemerkenswert selbstverständliche Weise ganz auf das innere Drama der Protagonistin und verzichtet dabei weitgehend auf eine äußere Dramatik, die auf Ausformulierung und Zuspitzung aus ist.

An wenigen Stellen überhöht Laura Luchetti allerdings das Geschehen vorsichtig mit einer sanften, unscheinbaren Metaphorik. Wenn sich Ginia schließlich auf eine Affäre mit dem dominanten Maler Guido (Alessandro Piavani) einlässt, zeigt der Film ihren ersten Sex ebenso minutiös wie dezent. Doch eigentlich liebt Ginia, die darüber immer häufiger ihre Arbeit vernachlässigt, die allseits begehrte Amelia, die das leichte Leben genießt und, wie sich später herausstellt, an Syphilis erkrankt ist. Das wiederum stürzt Ginia in ihrem ungewissen, aber auch verzweifelten Hin und Her zwischen Nähe und Distanz in eine tiefe Krise. „Ich weiß nicht, was mit mir passiert“, klagt sie gegenüber ihrem Bruder, der sie auffordert, die richtige Entscheidung zu treffen und ihr rät, sich nicht an den Schmerz zu gewöhnen: „Unglücklichsein ist sinnlos.“ Tatsächlich befindet sich Ginia, liebeskrank und verwirrt, auf abschüssiger Bahn. Nur eine gesundende Amelia, so scheint es, könnte ihren Liebesschmerz heilen und sie dem fatalen Sog entziehen. Zwei Mal erklingt deshalb Sophie Hungers Song „Walzer für niemand“, in dem es heißt: „Was wär‘ ich geworden, gäb‘ es dich nicht?“

Der schöne Sommer
(La bella estate)
Italien 2023 - 111 min.
Regie: Laura Luchetti - Drehbuch: Laura Luchetti - Produktion: Luca Legnani, Giovanni Pompili - Bildgestaltung: Diego Romero - Montage: Simona Pagi - Musik: Francesco Cerasi - Verleih: Cinemien - Besetzung: Yile Yara Vianello, Deva Cassel, Nicolas Maupas, Alessandro Piavani, Adrien Dewitte, Cosima Centurioni
Kinostart (D): 19.09.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt9320170/
Foto: © Cinemien