Dieser Film hat keine Zeit. Ebenso wenig wie seine Heldin Julie Roy (Laure Calamy), die im Modus von Hektik und Stress permanent unter Strom steht. Mit einer nervösen Handkamera und mit schnellen, harten Schnitten, die die Zeit förmlich zerschneiden und aufheben, folgt Éric Gravel in seinem Film „Julie – Eine Frau gibt nicht auf“ (À plein temps“) der alleinerziehenden Mutter zweier kleiner Kinder durch einen höchst strapaziösen Alltag. Der französische Originaltitel „Vollzeit“ ist hier gewissermaßen Extremprogramm und korrespondiert mit der Atemlosigkeit einer Arbeitspendlerin, die frühmorgens im Dämmerlicht das Haus verlässt und abends zurückkehrt, wenn es schon dunkel ist. Ihre Kinder werden derweil von einer älteren Dame aus der Nachbarschaft betreut. Als Teamleiterin von Zimmermädchen eines Pariser Luxushotels steht Julie, beobachtet und kontrolliert von einer strengen Chefin, auch bei ihrer gehetzten Arbeit ständig unter Spannung. „Hier gilt die Regel: Wir sind unsichtbar“, sagt Julie zu einer neuen Mitarbeitern. Allerdings hilft man sich hier aus Solidarität auch immer wieder gegenseitig.
Éric Gravel schichtet die verhandelten Probleme bis zur Überladung, indem er die Strapazen seiner Heldin in Beziehung setzt zum sozialen Ausnahmezustand einer Gesellschaft. In den Morgennachrichten ist von Inflation, steigenden Energiepreisen und Streiks die Rede, die dann Julie, die in einem Dorf weit außerhalb von Paris wohnt, hautnah zu spüren bekommt. Zugverbindungen fallen aus, später auch die Ersatzbusse. Der Verkehr wird zu einem einzigen Stau, der auch Julie in die Enge treibt und bis zur schieren Verzweiflung blockiert. So kommt sie immer öfter zu spät. Außerdem muss sie auf der Suche nach einem neuen, für ihre Ausbildung als Marktforscherin adäquateren Arbeitsplatz Vorstellungstermine während ihrer Arbeitszeit annehmen. Doch damit nicht genug, denn es gilt zusätzlich, den Kindergeburtstag ihres Sohnes vorzubereiten. Währenddessen wird ihr überzogenes Bankkonto gesperrt, ihr Ex-Mann meldet sich weiterhin nicht und schickt auch nicht das dringend benötigte Unterhaltsgeld; und dann geht im Bad bezeichnenderweise auch noch der Durchlauferhitzer kaputt.
Julie steht immer öfter im Regen und irgendwann auch vor verschossenen Türen. Sie rennt entlang von Staus, übernachtet einmal in einem ranzigen Billighotel und findet nur ganz selten Momente der Ruhe. Während auf ihren Fahrten in überfüllten Zügen und in Fahrgemeinschaften im Dämmerlicht die Häuser, Schlote und Landschaften wie ferne, fremde Welten vorbeiziehen, spitzt sich Julies Zwangslage sukzessive und mit Thriller-Spannung zu. Für ihren Wettlauf gegen die Zeit, markant vorangetrieben von den repetitiven Sounds der französischen Elektronikerin Irène Drésel, gibt es weder eine Perspektive noch eine Lösung. Insofern lässt Éric Gravel sein preisgekröntes Sozialdrama, in dem Arbeit und Leben heftig aufeinanderprallen, am Ende in einem ambivalenten Schwebezustand münden.