Sleep with your eyes open

(BR/AR/TW/DE 2024; Regie: Nele Wohlatz)

Verloren in der Fremde

Eigentlich wollte die junge Taiwanesin Kai zusammen mit ihrem Freund den Urlaub in der brasilianischen Küstenstadt Recife verbringen. Doch dann bleibt dieser aus und sie findet sich allein am Strand, wo sie einen aufdringlichen Verkäufer abwehren muss, und in einem Hotelzimmer mit der Nummer 13, wo ihr die Klimaanlage den Schlaf raubt. Obwohl Kai vielsprachig ist, fühlt sie sich einsam, fremd und verloren. Außerdem hat sie das Gefühl, zu sehr aufzufallen und damit als nicht dazugehörende Urlauberin identifiziert zu werden. Gegenüber einem deutschen Spanischübersetzer deutet sie an, dass es für sie eine Differenz zwischen sprachlicher Verständigung und Verstehen gibt. Die Kommunikation zwischen und jenseits der Sprachen begleitet stetig ihr Fremdheitsgefühl. Dann lernt Kai den hilfsbereiten chinesischen Schirmverkäufer Fu Ang kennen, der auf die Regenzeit hofft und Teil einer Community von mehr oder weniger illegalen Fremdarbeitern ist. Und sie bekommt einen Karton mit zahlreichen beschriebenen Ansichtskarten geschenkt, auf denen Xiaoxin, eine andere Chinesin, die zuvor in Argentinien gelebt hat, von ihren Erfahrungen in Recife erzählt. Diese spiegeln gewissermaßen Kais eigene Gefühlslage.

In der Folge wechselt Nele Wohlatz‘ völlig undramatisch und wie nebenbei erzählter Film „Sleep with your eyes open“ („Dormir de olhos abertos“) von der Rahmenhandlung zu einer Geschichte in der Geschichte, die aber wirkt, als fände sie gleichzeitig statt und als gäbe es zwischen den Erzählebenen keine zeitlichen und räumlichen Grenzen. Die Figuren und ihre Perspektiven lösen sich dabei ab, geben den narrativen Staffelstab weiter, rücken eine Zeit lang ins Zentrum, das es nicht gibt, und scheinen trotz diverser kultureller und kommunikativer Grenzen miteinander verbunden. Die in Deutschland geborene Regisseurin, die selbst etliche Jahre in Argentinien lebte, etabliert in ihrem unspektakulären, mit leichtem Humor abgefederten Film eine mäandernde, von langen, statischen Einstellungen getragene Erzählstruktur. Dabei setzt sie immer wieder die modernistische, austauschbare und damit irgendwie ortlos wirkende Hochhauslandschaft von Recife ins Bild.

„Hier ist immer alles gleich, nichts verändert sich“, sagt einer der Chinesen und sieht darin einen wesentlichen Unterschied zu den gravierenden Umwälzungen in seinem Heimatland, das sehr fern und abgerückt erscheint. In einem Hochhaus von Recife leben die Arbeitsmigranten wie in einer Blase und zugleich Tür an Tür mit einer wohlhabenden brasilianischen Gesellschaftsschicht, für die das Leben eine einzige, mit illegalen Mitteln finanzierte Party zu sein scheint. In einer skurrilen Szene regnet es vor einer der riesigen Panoramascheiben Geldscheine. „Weakness is a choice“, steht dagegen in großen Lettern auf dem T-Shirt eines chinesischen Gastarbeiters. Fu Ang, der in seiner Heimat Fischer war, sammle in der Fremde Ängste, heißt es. Seine Sorge ist, durch anderes Essen, andere Gewohnheiten und die Gerüche seiner Umgebung selbst in seiner Identität verändert zu werden. In einer Mischung aus Verlorenheit und Sehnsucht treibt er einmal nachts in einem Schwimmring hinaus aufs gefährliche Meer, nur um sich am Morgen desillusioniert am tristen Strand wiederzufinden. Vielleicht bleibt dort, wo die Wurzeln und Bindungen fehlen, alles gleich, beliebig und flüchtig, wie Fu Ang in seiner Perspektivlosigkeit einmal meint.

Sleep with your eyes open
(Dormir de olhos abertos)
Brasilien/Argentinien/Taiwan/Deutschland 2024 - 97 min.
Regie: Nele Wohlatz - Drehbuch: Nele Wohlatz - Produktion: Emilie Lesclaux, Kleber Mendonça Filho, Justine O., Roger Huang, Violeta Bava, Rosa Martínez Rivero, Meike Martens, Nele Wohlatz, Pío Longo - Bildgestaltung: Roman Kasseroller - Montage: Tsai Yann-shan, Ana Godoy - Verleih: Grandfilm - FSK: ab 16 - Besetzung: Chen Xiao Xin, Wang Shin-Hong, Liao Kai Ro, Nahuel Pérez Biscayart, Lu Yang Zong
Kinostart (D): 13.06.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt31015461/
Foto: © Grandfilm