Die 25-jährige Mathe-Doktorandin Marguerite Hoffmann (Ella Rumpf) studiert und arbeitet an der französischen Elite-Hochschule École Normale Supérieure (ENS) und möchte einmal Forscherin werden, was sie strenggenommen schon ist. Denn in ihrer Dissertation beschäftigt sie sich seit drei Jahren mit einem ungelösten Problem aus dem Bereich der Zahlentheorie, das unter der Bezeichnung „Goldbachsche Vermutung“ bekannt ist und um den „Beweis für die Existenz arithmetrischer Folgen in Primzahlen“ kreist. Im Interview mit einer Uni-Zeitschrift, mit dem Anna Novion ihren Film „Die Gleichung ihres Lebens“ („Le théorème de Marguerite“) eröffnet, wirkt die junge Mathematikerin sehr diszipliniert, rational und fokussiert, dabei zugleich in sich gekehrt und eigensinnig. Offensichtlich hat Ella, deren Eltern sich früh scheiden ließen, seit ihrer (beschädigten) Kindheit kaum andere Interessen. Ohne Mathematik könne sie nicht leben, sagt sie einmal. Unter ihren fast ausschließlich männlichen Kommilitonen gilt sie als Außenseiterin. Vom normalen Leben scheint sie regelrecht ausgeschlossen zu sein.
Damit korrespondiert die geometrische Ordnung der Uni-Architektur mit ihren geraden Linien und offenen Räumen. Doch Anna Novion inszeniert diese Transparenz von Anfang an ambivalent: Oft zeigt sie ihre förmlich von der Außenwelt abgeschottete Heldin hinter Glasscheiben, gerahmt und isoliert. Das Bild einer spiralförmigen Wendeltreppe symbolisiert diesbezüglich ein Kreisen um sich selbst, das sich im Unendlichen zu verlieren scheint. Ein Fehler, fachlich als „ungültige Argumentation“ markiert, bringt Ellas mathematisch geordnete Welt ins Wanken und konfrontiert sie in der Folge mit der nackten Realität. Bei einer Präsentation vor Fachpublikum verirrt sich Ella im Zeichen- und Zahlendschungel, bricht ihren Vortrag ab und ergreift die Flucht. Sie fühlt sich von ihrem väterlich strengen Professor Laurent Werner (Jean-Pierre Darrousin) verraten und zurückgesetzt, zumal dieser mit dem jungen Doktoranden Lucas Savelli (Julien Frison) überraschend einen Konkurrenten zu Ella installiert hat. Ellas Zusammenbruch deutet er als „verspätete Adoleszenzkrise“: „Die Mathematik darf nicht unter Gefühlen leiden.“
Die junge Frau tritt jetzt aus einem unscharfen Bildhintergrund in die Schärfe des Vordergrunds, aus der abstrakten Welt der Zahlenordnung in die konkrete Unordnung einer neuen Wirklichkeit. Sie zieht in eine WG mit der lebenslustigen, körperlich-sinnlichen Tänzerin Noa (Sonia Bonny), scheitert in Jobs, die ihrem Bedürfnis nach Logik nicht standhalten und entdeckt für sich schließlich das Mah-Jongg-Spiel, das sie für ihren Lebensunterhalt in verrauchten Hinterzimmern illegal gegen Chinesen spielt und gewinnt. Daneben taucht sie mit unkonventioneller Direktheit in die Milieus einer bislang unbekannten Realität ein, bevor sie erneut vom Mathe-Virus erfasst wird, immer besessener ihre Forschung vorantreibt und sich dabei regelrecht in einer Zeichenhöhle am Rande des Wahnsinns einschließt.
In ihrem zwar dramaturgisch und inhaltlich vorhersehbaren, aber nichtsdestotrotz spannenden und bewegenden Film portraitiert die französisch-schwedische Regisseurin eine faszinierende, willensstarke und genialische Heldin auf ihrem zunehmend unordentlicher werdenden, aber hartnäckig verfolgten Weg zu sich selbst. Dabei muss sie schließlich nicht nur die scheinbar festgefügten Sicherheiten und Gewissheiten einer „geordneten Unendlichkeit“ aufgeben, sondern sich auch den irrationalen Gefühlen der Liebe öffnen, um ihre prinzipielle Verletzlichkeit und Schwäche als Mensch in eine neue Stärke verwandeln zu können.