Auf trockenen Gräsern

(TR/FR 2023; Regie: Nuri Bilge Ceylan)

Unerreichbare Schönheit und ein Hauch von Transzendenz

Das Weiß der Leinwand und die überwältigende Helle einer weiten Schneelandschaft im Cinemascope-Format verschmelzen in der ersten Einstellung von Nuri Bilge Ceylans neuem Film „Auf trockenen Gräsern“. Auf dieser Tabula rasa einer beginnenden Erzählung bewegt sich als dunkler Punkt in der Ferne eine Gestalt durch den Schnee, von einem leichten Schneesturm umwölkt, auf eine entlegenes Dorf zu. Der Ankömmling, der seine Ferien in seiner Heimatregion verbracht hat, ist ein Rückkehrer und zugleich ein Fremder. In seinem mittlerweile vier Jahre andauernden Schuldienst in einer ostanatolischen Dorfschule hat sich der Kunstlehrer Samet (Deniz Celiloğlu) zwar gut integriert, doch hofft er, bald nach Istanbul versetzt zu werden. Der bei den Schülern beliebte „Lehrer aller Lehrer“, so der ironische Gruß eines Kollegen, ist eine widersprüchliche Figur mit einem innerlich zerrissenen Charakter. Er will nicht bleiben, wo er ist und vermeidet es deshalb, Wurzeln zu schlagen. Für eine Heirat sei er noch zu jung. Und seine Hoffnungen auf einen schmerzlich entbehrten Sinn projiziert er auf seine Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bağcı), der er bei seiner Rückkehr einen Spiegel schenkt.

Dass nach der sorgsamen Exposition ausgerechnet das kluge, aufgeweckte Mädchen den Lehrer eines unangemessenen Verhaltens bezichtigt, hat eine komplizierte Vorgeschichte, die nicht nur Samets Charakter aufgrund seiner Unaufrichtigkeit ins Zwielicht rückt, sondern auch ein Schlaglicht wirft auf behördliche Hierarchien, Abhängigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Provinz. Außerdem werden nebenbei die sozialen und politischen Verhältnisse der armen, überwiegend kurdischen Bevölkerung thematisiert. Nachts sind die Salven von Maschinenpistolen zu hören und erinnern damit an einen kriegerischen Dauerkonflikt. Auch die Geschichte von Samets Kollegen und Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) über seinen verhafteten und verschwundenen Vater deutet darauf hin. Freude und Schmerz würden manchmal in einem Augenblick zusammenfallen, sagt Kenan. Als Samet die Englischlehrerin Nuray (Merve Dizdar) kennenlernt, die in einem Nachbardorf unterrichtet, verbindet sich die unterschwellige politische Dimension mit seinen unausgegorenen Gefühlen und persönlichen Ambitionen.

Der türkische Meisterregisseur Nuri Bilge Ceylan, der seine genau beobachteten, durchweg ambivalenten Figuren einmal mehr in langen, vielschichtigen und oft verwickelten Rededuellen aufeinandertreffen lässt, etabliert mit Nuray eine starke Frau und Antipodin, die Samet herausfordert und ihn zwingt, Stellung zu beziehen. Die beiden verbindet ein künstlerisches Interesse, das sich bei Samet in Portraitfotos ausdrückt, während Nuray malt. Die Fallstricke des Menschlichen, die den vor allem um seine persönliche Freiheit besorgten Kunstlehrer veranlassen, zum „Herdentrieb“ der Gesellschaft auf Distanz zu gehen, führen seine Kollegin in einem hitzigen Disput schließlich zu einem Plädoyer für politisches und gesellschaftliche Engagement. Im mitlaufenden Konflikt zwischen Stadt und Provinz, Tradition und Moderne sagt Nuray, die bei einem Anschlag schwer verletzt wurde, dass für das Leben und Handeln der Ort nebensächlich sei, da die eigentlichen Probleme dem jeweiligen Menschen überallhin folgen würden. Der von zu viel Hoffnung ermüdete Samet muss sich entscheiden, ob er resignierend „im Sumpf untergehen oder ihn trockenlegen“ will, wie es an einer Stelle heißt.

Einmal mehr hat Ceylan mit seinem unbequemen, sehr nuanciert gezeichneten Protagonisten einen in Widersprüchen, Zweifeln und sich selbst gegenüber teilweise blinden Charakter geschaffen. Das zeigt sich nicht nur in Samets unentschiedenem Verhältnis zu Nuray und seiner damit verbundenen latenten Eifersucht auf seinen Kollegen Kenan, sondern auch in seinem Blick auf Sevim. Denn einerseits setzt er in sie die Hoffnungen der Jugend, andererseits prophezeit er ihre spätere, zwangsläufige Ernüchterung. „Alles Schöne auf dieser Welt scheint sich in den Netzen zu verstricken, die wir selbst weben, bevor es überhaupt zu uns gelangen kann“, heißt es einmal. Auch Samet ist ein Mensch, der gegen sein allzumenschliches Schicksal das Unmögliche, ja einen „Hauch von Transzendenz“ erträumt und sich dabei selbst im Wege steht. Wenn von einem Augenblick auf den Anderen der Winter endet und der Sommer beginnt, muss auch er, gebannt vom Blick auf die steinernen Zeugen der Vergangenheit, einen Schritt weitergehen.

Auf trockenen Gräsern
(Kuru Otlar Üstüne)
Türkei/Frankreich 2023 - 198 min.
Regie: Nuri Bilge Ceylan - Drehbuch: Nuri Bilge Ceylan, Ebru Ceylan - Produktion: Jonas Dornbach, Janine Jackowski, Nuri Bilge Ceylan - Bildgestaltung: Cevahir Sahin, Kürsat Üresin - Montage: Oguz Atabas, Nuri Bilge Ceylan - Musik: Philip Timofeyev - Verleih: eksystent Filmverleih - FSK: ab 12 - Besetzung: Deniz Celiloglu, Merve Dizdar, Musab Ekici
Kinostart (D): 16.05.2024

DVD-Starttermin (D): 24.10.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt13231544/
Foto: © eksystent Filmverleih