Anselm – Das Rauschen der Zeit

(DE 2023; Regie: Wim Wenders)

Das Chaos begrenzen

Die Skulptur eines verwaisten Kleids liegt schwer und wie erstarrt in einer Landschaft, über der langsam die Sonne aufgeht. Wie getrocknete Lava ergießt sich seine ausladende Schleppe über kalte, farblose Steine. Schwerer Atem und Naturgeräusche sind zu hören, während die Kamera in fließenden Bewegungen weitere Kleid-Skulpturen umkreist, die vereinzelt wie Fremdkörper in einer ausgebleichten Natur stehen; oder in einem gläsernen Gewächshaus versammelt sind, wo ihre „Köpfe“ aus Himmelskörpern, Backsteinen und geöffneten Büchern bestehen und wildes Stacheldrahtgewirr einen Haarschopf bildet. Dann erscheint hinter einer der Scheiben der Schatten des Künstlers Anselm Kiefer. Ein Zitat kommt ins Bild: „Wir mögen die Namenlosen und Vergessenen sein, aber wir vergessen nicht.“ Der 1945 in Donaueschingen geborene Maler und Skulpteur beschäftigt sich in seinen Werken immer wieder mit den Wunden und langen Schatten einer verdrängten deutschen Geschichte.

Der gleichaltrige Filmemacher Wim Wenders nähert sich in seinem 3D-Film „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ diesem großen, raumgreifenden Werk auf intuitive und sehr bedächtige Weise. Die behutsamen Kamerabewegungen des Bildgestalters Franz Lustig nehmen dabei stets das Verhältnis der oft riesigen Objekte und der überdimensionalen Gemälde zum umgebenden Raum in den Blick. Der Film ist deshalb – trotz einiger Archivmaterialien, Zitate und Spielszenen – auch weniger biographisches Künstlerportrait, sondern vielmehr eine filmpoetische Annäherung an ein großartiges Werk und die Orte seiner Entstehung, die im Grunde auch Lebensstationen sind. So arbeitet Anselm Kiefer von Beginn der 1970er Jahre bis Anfang der 90er in mehreren Ateliers, darunter auch eine ehemalige Ziegelei, im Odenwald bei Walldürn und in Buchen, bevor er in das südfranzösische Barjac umzieht. Dort entstehen auf dem ausgedehnten Areal einer stillgelegten Seidenspinnerei eine Vielzahl von Bauten und unterirdischen Gängen mit Krypten. Wenders filmt diese Orte mit ihren Werken, indem er sie für sich selbst sprechen lässt.

Daneben zeigt er den Künstler bei der Arbeit an seiner aktuellen Wirkungsstätte, einer gigantischen Lagerhalle in Croissy bei Paris. Hier radelt Kiefer pfeifend über das Areal zwischen mächtigen Materialregalen und Gemälden hindurch, arbeitet mit Hilfe einer Hebebühne an den meterhohen Leinwänden oder mit diversen Assistenten, wenn es darum geht, Blei zu gießen oder mit Feuer und Wasser auf seinen Gemälden Aschespuren zu erzeugen. Der Schutt zerbombter Nachkriegsstädte und Heideggers „Haus des Seins“, Celans „Todesfuge“ und Heideggers sich in einem Gemäldezyklus verdunkelndes Hirn werden zu Signaturen des Unbegreiflichen. Dagegen und gegen das Vergessen setzt Kiefer immer wieder die Auseinandersetzung mit den Mythen, die – wie auch die Kunst – ein Erkennen jenseits eines rationalen Begreifens ermöglichen. Trotzdem fühlt sich der Künstler, für den Sein und Nichts untrennbar verbunden sind, „überhaupt nicht angekommen“, sondern „auf dem Weg“. Eine Szene zeigt ihn als Seiltänzer, der mühsam versucht, die Balance zu halten. Letztlich gehe es in seiner überdimensionalen, eine ganz eigene Welt erschaffenden Kunst darum, das Chaos der Existenz zu begrenzen, es gewissermaßen durch einen Rahmen einzufrieden.

Anselm – Das Rauschen der Zeit
Deutschland 2023 - 93 min.
Regie: Wim Wenders - Produktion: Karsten Brüning - Bildgestaltung: Franz Lustig - Montage: Maxine Goedicke - Musik: Leonard Küßner - Verleih: DCM - Besetzung: -
Kinostart (D): 12.10.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt27502250/
Foto: © DCM