Eine alte Frau entrollt ein altes, gemaltes Filmplakat, auf dem sie selbst als junges Mädchen zu sehen ist und das den Stummfilm „Auctions of souls“ („Auktion der Seelen“) aka „Ravished Armenia“ („Geschändetes Armenien“) von Oscar Apfel annonciert. Begleitet von der Off-Erzählung, blendet der Film dann über ins Jahr 1919, um Archivbilder von der Premiere und Ausschnitte aus dem Film zu zeigen, von dem nur etwa 18 Minuten erhalten sind. Zu sehen sind Bilder von Vertreibung und Flucht, von schrecklichen Gräueltaten und Tod. Gegenwart, Erinnerung und Vergangenheit gehen ineinander über. Die leidvolle Erfahrung kehrt als Trauma zurück. Und Aurora Mardiganian (1901–1994), die zur Zeit der Dreharbeiten 17 Jahre alt war und sich selbst als 14-jähriges Flüchtlingsmädchen spielt, sagt: „Ich war gar keine Schauspielerin. Das im Film war nicht gespielt. Es war meine eigene Geschichte.“
Diese ebenso unglaubliche wie wahre Überlebensgeschichte voller Gewalt und Tod beginnt im Frühling 1915 in Chmshkatzag, einem kleinen Ort im Westen Armeniens, der damals zum Osmanischen Reich gehört. Hier wird Arshaluys Mardigian im Jahre 1901 als Tochter eines wohlhabenden Seidenherstellers geboren. Das aufgeweckte Mädchen hat noch sieben Geschwister (der älteste Bruder lebt allerdings in Amerika), was durch ein Familienfoto dokumentiert wird. Zu Beginn ihres Animationsfilms „Aurora – Star wider Willen“ („Aurora’s sunrise“), in den Interviews mit der betagten Zeitzeugin, Archivmaterial sowie Szenen aus dem verschollenen Stummfilm kunstvoll eingearbeitet sind, beschreibt die armenische Regisseurin Inna Sahakyan eine idyllische, fast heile Welt der Kindheit. Diese erscheint in aquarellierten Landschaften und in zarten, hellen Pastelltönen eines glücklichen Miteinanders in der Großfamilie. Im schönen Garten des elterlichen Hauses führen die Kinder kleine Theaterstücke auf und Arshaluys lernt Schwimmen, was ihr später von Nutzen sein wird.
Diese heile Welt wird jäh zerstört, als die Jungtürken im Schatten des 1. Weltkrieges mit der systematischen Vertreibung und Ermordung des armenischen Volkes beginnen. Männer und Priester werden getötet, Häuser geplündert und gebrandschatzt, Frauen und Kinder auf Todesmärschen in die syrische Wüste getrieben. Es kommt zu Vergewaltigungen und willkürlichen Gewaltexzessen. Auf ihrer albtraumhaften Odyssee verliert Arshaluys fast ihre komplette Familie, sie wird mehrfach entführt und verkauft, findet aber auch immer wieder freundliche Helfer.
Der Film illustriert die furchtbaren Geschehnisse von Auroras autobiographischer Erzählung, die sie nach ihrer geglückten Flucht in die USA mit Hilfe des Journalisten Henry Gates zunächst in Fortsetzungen aufschreibt und publiziert, in ebenso drastischen wie realistischen Bildern. Dabei dient die Animation als wirkungsvolles Mittel, um zwischen emotionaler Nähe und Distanz zum Schrecken zu vermitteln. Daneben stehen Flashbacks, in denen unter dem Eindruck der Gewalt die Symbole einer glücklichen Kindheit schmerzlich pervertiert werden. Nach Stationen in Erzurum, Tiflis, St. Petersburg und Oslo erreicht die jugendliche Heldin auf abenteuerlichen Wegen 1918 schließlich New York. Der besagte dreistündige Film, der in Hollywood nach ihrer Geschichte gedreht wird, führt schließlich zu einer landesweiten, sehr erfolgreichen Spendenkampagne für armenische Waisenkinder. Am Ende aber steht Auroras Forderung nach Anerkennung für erlittenes Leid und nach – zumindest moralischer – Gerechtigkeit für ihr Volk.
Der Film ist noch bis zum 24.07.2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.