Indem der junge Fotograf François (Louis Garrel) die verheiratete Schauspielerin Carole Weissman (Laura Smet) fotografiert, verliebt er sich in sie. Kunst und Liebe sind eins in Philippe Garrels Film mit dem poetischen Titel „Vor dem Morgengrauen“ („La frontière de l’aube“). Der Künstler ist hier ein Begehrender und ein romantischer Idealist, der seine Gefühle verabsolutiert. François beansprucht, „länger als immer“ zu lieben. „Wahre Liebe“ ist für ihn „mehr als eine Beziehung“, was für ihn bedeutet, mit und durch den andern zu leben. François ist aber auch ein Theoretiker der Liebe, der seinen Worten mehr traut als seinen Gefühlen und der im Zweifelsfall vor der Verantwortung flieht. Und das wiederum macht ihn anfällig für jene Schuldgefühle, die im Unterbewusstsein nisten, in der Stille wachsen und schließlich als Gespenster in die Wirklichkeit eintreten. Der Künstler als junger Mann ist in Garrels Film schließlich vor allem ein unangepasster Schwärmer, der sich in seinem emotionalen Bewegungsdrang ungern festlegen lässt.
Dagegen bewegt sich Caroles Liebeskrankheit zwischen Besessenheit und Wahnsinn, was sie ebenso geheimnisvoll wie unberechenbar macht. Sie wirkt unstet, psychisch labil und depressiv. Sie trinkt zu viel und hat schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie sagt: „Ich mache oft dumme Sachen.“ In der Liebe will sie mit dem Geliebten verschmelzen und dann verschwinden. Das Nichts scheint ihr näher zu sein als das Absolute. Ihre unstillbare Sehnsucht kann sich nur im Tod erfüllen. Im Leben ist Carole eine Verzweifelte, die zu François sagt: „Wenn du mir nicht vertraust, bin ich allein.“ Später, nach einem weiteren Selbstmordversuch, wird sie in einer psychiatrischen Klinik mit Elektroschocks behandelt, als wolle man ihr alles Begehren und jegliche Sehnsucht austreiben.
Diese Szenen wirken wie aus der Zeit gefallen, was durch die schwarzweiße Optik und die Verwendung von Kreisblenden (Kamera: William Lubtchansky) noch unterstrichen wird. Außerdem konzentriert sich Philippe Garrel auf eine überschaubare, in sich geschlossene Welt, um die sich zwischen Anziehung und Abstoßung bewegenden Liebeskranken zu inszenieren. Jenseits von ihnen und ihren Konflikten ist das Leben diffus und abstrakt. Selbst die Räume taugen kaum zur Wiedererkennbarkeit. Sie sind karg, spartanisch und kaum möbliert. Die wiederkehrenden Mansardenzimmer fungieren in Garrels Werk als Topoi unsteter, vorübergehender und prekärer Lebensverhältnisse. In ihnen wohnen Außenseiter und Künstler, die ihren Nonkonformismus mit Einsamkeit bezahlen. Ihnen widmet Garell mit seinem Film eine von Melancholie grundierte, traurig-schöne Hommage: „Wir sind das schlafende Volk. Diejenigen, die Geschichte machen, sind in der Überzahl.“
Der Film ist bis zum 30.06.2023 als TV-Erstaufführung in der Arte-Mediathek abrufbar.