Über den Straßen von Amsterdam tobt ein heftiger Gewittersturm mit Starkregen. Helle Blitze zucken aus einem dunklen, schwarzgrau gefärbten Himmel, während der Sturmwind ein rotes, kleines Iglu-Zelt mit sich fortreißt, in dem eine Flüchtlingsfamilie bis dato notdürftig einen Unterschlupf auf dem Gehweg vor dem Anne-Frank-Haus gefunden hat. Im Museum wiederum zerspringt das Glas einer Vitrine, in der Anne Franks berühmtes Tagebuch ausgestellt ist. Ähnlich dem Geist aus der Flasche und wie von Zauberhand berührt, verflüssigen sich die handgeschriebenen Buchstaben, steigen in dünnen, feinen Fäden auf, um auf leichte, zeichnerische Art eine Figur zu formen. Dabei handelt es sich um eine Materialisierung von Kitty, jener imaginären Freundin, an die Anne Frank einst ihre Briefe gerichtet hat. Diese schreibt sie nach ihrem 13. Geburtstag, den sie am 12. Juni 1942 mit ihrer Familie feiert, in ihr Tagebuch mit dem rot-weiß karierten Einband. Kurz darauf bezieht die jüdische Familie, die Jahre zuvor aus Deutschland geflohen ist, ihr Versteck in einem Hinterhaus, wo sie vor dem Zugriff durch die Nazis zunächst sicher ist.
Ari Folman wählt für seinen vielschichtigen Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ diesen ungewöhnlichen Einstieg, um durch einen Perspektivwechsel einen neuen und zugleich aktualisierten Blick auf die berühmte Geschichte zu werfen. Denn Kitty entsteigt dem Tagebuch, um sich auf die Suche nach ihrer Schöpferin zu begeben und dabei Annes Geschichte bis zu ihrem traurigen Ende zu erzählen. Dafür wechselt der phantasievoll animierte Film permanent die Zeitebenen zwischen einer sehr farbigen Vergangenheit und einer winterlich grauen Gegenwart. Während Kitty innerhalb des Museums für die Besucher unsichtbar bleibt, wird sie draußen auf den Straßen und zugefrorenen Grachten der Stadt als jetzt sichtbare „Diebin“ des Tagebuchs zur Verfolgten, was der Film für rasante Verfolgungsjagden nutzt. Als Alter Ego und als Gegenüber von Anne erzählt sie einerseits von den Sorgen und Nöten des selbstbewussten Mädchens in ihrem Versteck, andererseits entfaltet sich um die Hauptfigur Kitty in den Passagen der Gegenwart eine eigene Geschichte.
Darin folgt das als warmherzig, klug und mutig charakterisierte Mädchen nicht nur dem bitteren Weg Anne Franks ins Verderben durch die Nazis, die hier als schwarz gewandete Sensenmänner unter einem blutroten Himmel gezeichnet werden. Denn außerdem verliebt sich die lebenslustige Kitty in den gewieften Taschendieb Peter, mit dem sie diverse Abenteuer besteht, und freundet sich zugleich mit dem Flüchtlingsmädchen Awa aus Mali an. Dem israelischen Regisseur und Drehbuchautor Ari Folman, der selbst in einer Familie von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen ist, geht es in der Adaption der gleichnamigen Graphic Novel, die das Gegenstück zum zuvor veröffentlichten „Graphic Diary“ bildet, um die Kontinuität von Vertreibung, Flucht und Ausschließung. Gegen die Kommerzialisierung der Gedenkkultur etabliert er, einfühlsam und von einem humanistischen Geist beseelt, eine jugendliche Heldin, die mit dem Wissen aus der Vergangenheit für eine bessere Gegenwart kämpft und sich dabei mutig für das Bleiberecht verfolgter und geflüchteter Menschen einsetzt. Anne Franks Tagebuch wird ihr dabei gleich in mehrfacher Hinsicht zur Hilfe. Kitty gewinnt ein eigens Leben und bleibt letztlich doch Phantasie eines außergewöhnlichen Mädchens.