Aus erhöhter Perspektive blickt die Kamera auf zwei junge Menschen, die, durch eine leere Straße getrennt, einander gegenüberstehen und auf einen Bus warten. Ihre Beziehung wird zunächst durch diese räumliche Distanz definiert, bevor sie erst durch verstohlene Blicke, dann durch das Überqueren der Straße aufgehoben wird. Der etwa 20-jährige Luc (Logann Antuofermo), der neu ist in Paris, fragt an der Vororthaltestelle Djemila (Oulaya Amamra) nach dem Weg. Die erste Begegnung der beiden ist vorsichtig tastend, zögerlich, fast scheu. Kaum ein Wort wird während ihrer gemeinsamen Busfahrt gewechselt. Nur sehr langsam überwinden die beiden ihre Distanz. Der schüchternen Annäherung folgt eine Verabredung zum Spaziergang. Während Djemila als Arbeiterin gerade eine schulische Pause überbrückt, ist der angehende Tischler Luc aus einem kleinen Provinzort angereist, um an der Kunstgewerbeschule École Boulle die Aufnahmeprüfung abzulegen. Sein Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt geht einher mit der Erziehung des Herzens.
In mehreren zeitlichen Abschnitten, die jeweils mit Ortswechseln und neuen Begegnungen verbunden sind, erzählt der 1948 geborene Philippe Garrel in seinem Film „Das Salz der Tränen“ („Le sel des larmes“) von Lucs ziemlich flatterhaften Éducation sentimentale. Dabei liegt das Interesse des französischen Regisseurs, der seinen Film zusammen mit dem renommierten Kameramann Renato Berta erneut in Schwarzweiß und in einem zeitlosen Ambiente aufgenommen hat, weniger auf einer durchgehenden Geschichte, sondern vielmehr im Szenischen und im einzelnen Bild. Die Beziehungen der Figuren im Raum, Orte als Ansammlung von Ideen, von subjektiven Obsessionen, unterbewussten Träumen und Erinnerungen sowie eine unverkennbar Faszination für das Schöne lassen die mögliche Kohärenz des Plots und der Dialoge mitunter zurücktreten.
Philippe Garrels romantischer, fast schwärmerischer Film folgt der Logik der Poesie und ist geradezu unschuldig gegenüber filmischen Konventionen. Wo es Handlung zu überbrücken gilt, meldet sich aus dem Off ein Erzähler kurz zu Wort. Stimmungsvolle Klaviermusik von Jean-Louis Aubert setzt eine melancholische Grundnote. Garrels poetischer Realismus macht seinen Film ebenso gegenwärtig wie überzeitlich.
„Ich vergesse dich nicht“, sagt Luc bei seinem Abschied von Djemila. Zurück in seinem Heimatort, thematisiert der Film zunächst die enge Beziehung des Protagonisten zu seinem alten Vater (André Wilms), der eine Tischler-Werkstatt betreibt, etwas ernüchtert auf die mögliche Zukunft seines Handwerks blickt („Nomaden brauchen keine Möbel.“) und seinen Sohn allein aufgezogen hat. Als Luc eine Zusage für die Aufnahme an der École Boulle erhält, wird klar, dass er mit Beginn seines Studiums auch einen nicht realisierten Traum seines Vaters lebt.
Doch zunächst gerät Luc in weitere Liebeswirren, als er seine schöne frühere Schulfreundin Geneviève (Louise Chevillotte) trifft und diese nach einer leidenschaftlich intensiven Romanze schwanger wird. Der bis dato unentschieden und wankelmütig erscheinende Held lässt daraufhin unumwunden seine Freundin sitzen, um sich seiner beruflichen Zukunft zu widmen. Ohne Arbeit und finanzielle Mittel, jung, unerfahren und am Beginn eines neuen Lebensabschnittes sagt Luc, er sei noch nicht bereit für Vaterschaft und Ehe. Diese ebenso plötzliche wie harte Entschiedenheit, die vom Erzähler knapp als feige Flucht vor der Verantwortung gedeutet wird, wirft ein neues Licht auf den so unzuverlässigen, suchenden und sich selbst ungewissen Helden.
Einmal sagt Geneviève zu ihm: „Du liebst mich – im Moment.“ Dieser Satz mit Gedankenstrich trifft ziemlich genau Lucs vorläufiges Handeln, das noch keinem bestimmten oder gewissen Begriff von Liebe folgt und auf eine „ebenbürtige“ Gefährtin hofft. Auch nach seiner Rückkehr nach Paris, wo er sich auf ein ziemlich gewagtes Liebesexperiment mit der abenteuerlustigen Betsy (Souheila Yacoub) und ihrem Kumpel Paco (Martin Mesnier) einlässt, bleiben seine Beziehungen unstet und von melancholischer Einsamkeit grundiert. Fast scheint es, als sei sein Los, den Wert des Verlorenen nur immer erst und mit vergeblichem Bedauern im Nachhinein ermessen zu können.
Am 20.2.2023 erfolgt die Erstausstrahlung auf Arte, bis zum 21.3.2023 wird der Film in der Arte-Mediathek erhältlich sein.