Meinen Hass bekommt ihr nicht

(FR/DE/BE 2022; Regie: Kilian Riedhof)

Kokon aus Schmerz und Trauer

Paris, 13. November 2015. Für die Familie Leiris beginnt ein Tag wie jeder andere. Während warme Sonnenstrahlen ins eheliche Schlafzimmer fallen und Antoine (Pierre Deladonchamps) gerade im Begriff ist, zärtlich seine Frau Hélène (Camélia Jordana) zu liebkosen, springt der kleine, etwa eineinhalb Jahre alte Melvil (Zoé Iorio) lärmend aufs Bett. Die junge Familie ist sicht- und hörbar gestresst. Doch das ist die Normalität eines mit kleinen Konflikten und liebevollen Neckereien angereicherten Alltags, in dem Antoine, der sich als Autor gerade an einem Buch versucht, die Rolle des Hausmanns übernommen hat und Hélène als Visagistin arbeitet. Kilian Riedhof blickt in seinem Film „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, einer Adaption von Antoine Leiris‘ gleichnamigem, auf Tatsachen basierendem Erfahrungsbericht, mit Humor und Wohlwollen auf die Probleme heutiger Großstadteltern zwischen Rollentausch, Kita-Betrieb und Bio-Ernährung. Wenn Hélène am Abend vergnügt mit ihrem Freund Bruno (Yannick Choirat) ins Konzert der Eagles of Death Metal in den Musikclub Bataclan geht, ist das auch ein Statement für einen freien, unabhängigen Lebensstil.

Das mörderische Attentat, das dort stattfindet und dem Hélène neben vielen anderen zum Opfer fällt, ist gerade auf die Zerstörung dieser Werte aus. Der Film vermittelt die schrecklichen Geschehnisse indirekt über Antoine, der erst am späten Abend vom islamistischen Terror erfährt, der die französische Hauptstadt erschüttert. Besorgte Kurznachrichten von Freunden, Blaulicht und Polizeisirenen sowie erste Fernsehnachrichten erfüllen Antoine zunehmend mit Angst und Sorge um seine Frau. In Panik und mit unerträglicher Ungewissheit macht er sich in der Nacht auf die Suche nach ihr. Eine erfolglose Odyssee durch Krankenhäuser und das Chaos der Stadt beginnt. Doch erst zwei Tage später, während sich eine unheimliche Stille über die Straßen legt, erfährt er von ihrem Tod. Bruno überlebt verletzt und traumatisiert. Präsident François Hollande spricht im TV in einer ersten Reaktion von einer „Kriegserklärung“ der Terroristen.

Im Folgenden konzentriert sich Kilian Riedhof fast ausschließlich auf das innere Erleben seines Protagonisten, auf seine Anfälle von Verzweiflung und tiefer Trauer über den schmerzlichen Verlust sowie auf seine kreisenden Gedanken, die kaum einen Fortschritt zulassen. In seinen psychischen Ausnahmezustand brechen immer wieder Erinnerungen und Visionen an seine Frau ein. Die Inszenierung findet dafür Bilder einer tranceartigen Zwischenwelt und eines labilen Bewusstseins. Naheinstellungen, räumliche Begrenztheit und schwebende Zeitlupen akzentuieren diese Intimität.

Zwischen unterdrückter Wut und Panikattacken schreibt Antoine jenen titelgebenden Facebook-Eintrag, der weltweit geteilt wird und schließlich auf der Titelseite von Le Monde landet. Der seelisch Versehrte verbietet sich Hass und Rachegedanken, um die Logik des Terrors zu durchbrechen und um zu einem irgendwie „normalen Leben“ zurückzufinden. Halt und Zuversicht geben ihm seine Familie, Freunde und die Bedürftigkeit seines kleinen Sohnes. Doch trotz Phasen der Besänftigung und des Trostes bleibt am Ende – versinnbildlicht im Blick auf den in einer Hängematte liegenden Antoine – ein Schwanken, ein Warten ohne festen Grund, ein Hoffen auf etwas Neues.

Meinen Hass bekommt ihr nicht
(Vous n'aurez pas me haine)
Frankreich, Deutschland, Belgien 2022 - 102 min.
Regie: Kilian Riedhof - Drehbuch: Jan Braren, Marc Blöbaum, Kilian Riedhof, Stéphanie Kalfon - Produktion: Janine Jackowski, Jonas Dornbach, Maren Ade - Bildgestaltung: Manuel Dacosse - Montage: Andreas Mertens - Musik: Peter Hinderthür - Verleih: Tobis Film - FSK: ab 12 - Besetzung: Pierre Deladonchamps, Zoé Iorio, Camélia Jordana, Thomas Mustin, Anne Azoulay, Christelle Cornil, Farida Rahouadj, Yannuk Choirat
Kinostart (D): 10.11.2022

DVD-Starttermin (D): 12.05.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt10603396/
Foto: © Tobis Film