Rimini

(AT/FR/DE 2022; Regie: Ulrich Seidl)

Das Leben als Kneipp-Tour

Frontal und aus der Distanz aufgenommen, blicken wir auf eine Gruppe alter Menschen, die, in gerader Linie aufgereiht, auf ihren Rollstühlen oder hinter ihren Rollatoren sitzen und mit gebrechlichen Stimmen ein Lied singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Das statische Bild wirkt in seiner Stilisierung kühl und sachlich, die darin arrangierten Figuren, vermutlich Laienspieler, wirken ausgestellt, fast vorgeführt; der umgebende leere Raum verstärkt die trostlose, deprimierende Atmosphäre, wobei der kontrastierende Text des angestimmten Liedes fast schon zynisch, zumindest aber ironisch verstanden werden kann oder muss. Vielleicht zeigt dieses Bild ganz allgemein die traurige Realität des Menschen und einen Alltag, der als wenig kinotauglich gilt. Die kalkulierte Inszenierung, die für die Filme des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl charakteristisch ist, spricht jedoch eine andere Sprache. Es fällt schwer, in den oft plakativ und überdeutlich mit schlechtem Geschmack und hässlicher Trivialität ausgestatteten Szenen empathische Züge aufzuspüren. Das Altenheim, in dem zu Beginn ein Bewohner vergeblich nach einem Ausgang sucht, heißt übrigens „Waldesruh“. Die Flure sind lang und kalt, die Türen verschlossen.

„Ach wie bald entschwinden frohe Stunden“, ist konsequenterweise dann auch die Liedzeile, mit der ostentativ die triste Geschichte über das traurige Leben eines abgehalfterten Schlagersängers ihren Ausgang nimmt. Nach der nicht minder trostlosen Bestattung seiner Mutter („Was bleibt, ist die Erinnerung und ein Dankeschön.“) reist Richie Bravo (Michael Thomas) zurück in sein Domizil im titelgebenden Rimini an der italienischen Adriaküste. Es ist Winter und neblig, es regnet und schneit sogar, die Strände sind leer und die Hotels verlassen. Nur afrikanische Flüchtlinge kauern da und dort demonstrativ im Sand oder auf Gehsteigen. Wenn Richie Bravo gerade nicht mehr oder weniger besoffen im Nerzmantel durch diese unwirtliche Szenerie stapft, bespaßt er mit seinen Herz-Schmerz-Schnulzen betagte Kaffeefahrttouristinnen, die sich damit wohlig ihre verlorenen Sehnsüchte und Träume in Erinnerung rufen. „Das Leben ist eine Kneipp-Tour“, behauptet der Animateur mit tiefem Blick und unwiderstehlichem Charme. Seinen Verehrerinnen will er mit „Amore mio“ „Hoffnung ins Herz“ setzen.

Dabei bräuchte der stets klamme Lebenskünstler selbst welche. Weil das Geld nicht reicht, bietet er ausgewählten Damen seine Liebesdienste an. Außerdem vermietet er seine mit Fan-Devotionalien bestückte Wohnung, während er selbst in einem spartanischen Hotelzimmer eincheckt. Als schließlich auch noch seine erwachsene Tochter Tessa (Tessa Göttlicher) mit Unterhaltsforderungen auftaucht, ist der findige Mogler Richie, der sich vielleicht selbst betrügt, aber alles vermutlich ganz ernst meint, nur fast im Arsch. Denn „immer wieder geht die Sonne auf“. Reumütig spielt der verkorkste Vater mit schmutzigem Sex und Suff seine letzte Karte aus. Denn natürlich sind in Ulrich Seidls gewohnt schonungslosem Film sämtliche Beziehungen auf den Tausch von Geld und zwischenmenschliche Abhängigkeitsverhältnisse gebaut. Dass dabei Richies Wohnung irgendwann zu einer Art Flüchtlingscamp mutiert, ist wohl weniger als Utopie denn als realpolitische Satire zu verstehen. Dass Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle als Richies dementer Altnazi-Vater am Ende mit brüchiger Stimme „Fremd bin ich eingezogen“ aus Schuberts „Winterreise“ haucht, spitzt diesen trostlosen Eindruck schließlich ins Existenzielle zu.

Rimini
Österreich, Frankreich, Deutschland 2022 - 114 min.
Regie: Ulrich Seidl - Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz - Produktion: Ulrich Seidl - Bildgestaltung: Wolfgang Thaler - Montage: Monika Willi - Verleih: Neue Visionen - FSK: ab 12 - Besetzung: Michael Thomas, Tessa Göttlicher, Hans-Michael Rehberg, Inge Maux, Claudia Martini, Georg Friedrich
Kinostart (D): 06.10.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt8956284/
Foto: © Neue Visionen