Der Sommer mit Anaïs

(FR 2021; Regie: Charline Bourgeois-Tacquet)

Leidenschaftlicher Lebenshunger

Die junge, hübsche Anaïs (Anaïs Demoustier) ist ein Wirbelwind im Blumenkleid. Sie scheint keinen Stillstand zu kennen und ist immer in Bewegung. Hektisch und in permanenter Zeitnot zieht sie ihre Bahnen. Zu Beginn von Charline Bourgeois-Tacquets tempogeladenem Film „Der Sommer mit Anaïs“ („Les amours d’Anaïs“) eilt die Titelheldin vom Blumenhändler zu einem Termin mit ihrer Vermieterin, die wohl nicht ganz zufällig auch die Mutter von Anaïs‘ Freund Raoul (Christophe Montenez) ist. Die flatterhafte Literaturstudentin, die promoviert, wovon allerdings nicht viel zu bemerken ist, hat Mietschulden und findet natürlich Ausreden, um ihr besorgtes Gegenüber zu besänftigen. Denn außerdem redet sie ziemlich viel und schnell und zeigt sich dabei offen und distanzlos.

Es verwundert also nicht, dass die gehetzte Titelheldin ein eher chaotisches Beziehungs- und Liebesleben führt. Von Raoul, der ihr vorwirft, egoistisch zu sein, trennt sie sich kurzerhand nach einer Abtreibung. Und mit dem älteren Verleger Daniel (Denis Podalydès) lässt sie sich eher aus einer Laune heraus ein. Doch dann verliebt sie sich in das Bild seiner Lebensgefährtin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi), einer 56-jährigen Schriftstellerin, mit der sich Anaïs sogleich identifiziert. Bei einem Literaturkongress in der Bretagne kommt es schließlich zur Begegnung zwischen den beiden Frauen, die bald von einem leidenschaftlichen Liebestaumel erfasst werden. Emilie ist fasziniert von Anaïs‘ Bestimmtheit, mit der diese ihr Verlangen lebt, und wird dabei selbst von einer unerwartet intensiven Lust überwältigt. Dabei trägt sie bezeichnenderweise ein blaues, Anaïs ebenso sinnfällig ein rotes Kleid.

Was der Schriftstellerin als „realitätsfremde“ Illusion erscheint, ist für die Jüngere nicht nur wahre Gewissheit, sondern vor allem ein Überlebenselixier. Denn mit ihrem steten Verlangen vertreibt oder bekämpft sie auch die Traurigkeit, die sie bei der Begegnung mit ihrer schwerkranken Mutter überfällt. Vielleicht ist ihre gesteigerte Aktivität auch ein Mittel, um vor den Schmerzen des Lebens zu fliehen. Und vielleicht spiegelt sich in ihrer Liebe zu Emilie auch ihre Sehnsucht nach der Mutter. In ihrem zwischen Komödie und Drama changierenden Liebesfilm folgt die französische Regisseurin in sehr dynamischen Plansequenzen und geistreichen Dialogen der ebenso sprunghaften wie selbstbewussten Heldin. Deren fordernder Lebenshunger wird wiederum durch Ellipsen verdichtet und in Referenzen an Werke von Marquerite Duras und John Cassavetes gespiegelt. Anaïs‘ Unbedingtheit wird dabei zum Ausdruck ihrer Selbstbehauptung sowie eines Reifeprozesses.

Der Sommer mit Anaïs
(Les amours d'Anaïs)
Frankreich 2021 - 98 min.
Regie: Charline Bourgeois-Tacquet - Drehbuch: Charline Bourgeois-Tacquet - Produktion: Igor Auzépy, David Thion, Stéphane Demoustier, Philippe Martin - Bildgestaltung: Noé Bach - Musik: Nicola Piovani - Verleih: Prokino - Besetzung: Anaïs Demoustier, Valeria Bruni Tedeschi, Denis Podalydès
Kinostart (D): 21.07.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt13142240/
Foto: © Prokino