Der Blick auf Dachziegel ist mit einem zunächst undefinierbaren, kratzenden Geräusch unterlegt. Dann öffnet sich das Bild und integriert die Details in einen größeren Zusammenhang: Aus den Ziegeln wird das Dach eines Hauses, vor dem eine Kleinfamilie versammelt ist. Eltern beobachten einen kleinen Jungen, der mit Stützrädern Fahrrad fährt, als plötzlich Regen einsetzt. Der Vater zieht den Jungen unter das Dach, das Schutz bietet wie andererseits die Stützräder Sicherheit geben. Was auf der Bild-Ton-Ebene zunächst entkoppelt scheint, bildet im ideellen Setting des Familienkonstrukts eine Einheit. „Wir sind noch dieselben“, lautet die einerseits beruhigende Überschrift des ersten Kapitels von Maria Clara Escobars ästhetisch ungewöhnlichem Film „Desterro“. Der selbstverständliche, auf Identifikation zielende Status quo dieser Aussage beinhaltet andererseits aber auch eine Beunruhigung, denn wo sich nichts ändert, herrscht der Zwang zur Wiederholung, mithin Stillstand.
Die Routinen des Alltags mit seinen wiederkehrenden Abläufen und Ritualen inszeniert die brasilianische Filmemacherin und Lyrikerin als statische Ordnung der Dinge. Während die Künstler Laura (Carla Kinzo) und Israël (Otto Jr.), die seit acht Jahren unverheiratet ein Paar sind, morgens in ihrer Küche frühstücken und eine monotone Konversation pflegen, sehen wir eine Montage von Einrichtungsgegenständen. Was eben noch Schutzraum einer konventionellen Familienordnung war, spiegelt nun den Stillstand einer eingefrorenen Beziehung. Laura und Israël sind gefangen in Konventionen, die den Sinn der Existenz verdunkeln beziehungsweise diese auf Symptome reduzieren. Vor allem Laura, die desillusioniert, gelangweilt und depressiv wirkt, leidet unter dem Gleichmaß der Tage, einem verflüchtigten Sinn und uneinholbaren Verlusten. Wenn sie vom Ende der Welt spricht, steht ihre Lust am Untergang, dem sie gefasst begegnen will, im Gegensatz zu Israëls Veränderungs- und Behauptungswillen.
„Manchmal merkt man erst, dass man etwas hatte, wenn es wieder weggeht“, beschreibt die apathische Laura ihr Gefühl einer flüchtigen Existenz, die sich in Anpassungsleistungen und der Erfüllung von Funktionen erschöpft. Als Israël im dritten Kapitel, das auf das erste folgt, erfährt, dass Laura auf einer Busreise durch Argentinien plötzlich verstorben ist, tritt an die Stelle der Trauer eine komplizierte Bürokratie. „Lauras Körper“ lautet entsprechend die Kapitelüberschrift über einem Handlungsabschnitt, der sich vor allem mit den logistischen und finanziellen Details der Rückführung eines Leichnams beschäftigt. Die analytische Sachlichkeit und das Interesse für scheinbar unwichtige Details erzeugen in „Desterro“, was „Verbannung“ bedeutet, einen – trotz aller Statik – kontinuierlichen Strom der Nebenordnung. Das Ganze, Heile oder Bruchlose entzieht sich. Eine mitunter abschweifende Kamera, undefinierbare Geräusche, räumliche Unschärfe sowie angeschnittene Bilder spitzen Unsicherheit, Bedrohung und Irritation auf kunstvolle Weise zu. Immer scheint es ein paralleles Leben mit sich entziehenden Bedeutungen zu geben.
Im abschließenden zweiten Kapitel, das „Alles wird gut“ überschrieben ist und das Lauras lange, trostlose Busfahrt dokumentiert, wird diese Gleichzeitigkeit in die Pluralität verschiedener Geschichten überführt, die von Frauen erzählt werden. Diese berichten von ihren leidvollen Erfahrungen und blicken dabei direkt zum Zuschauer. In diesem Chor weiblicher Stimmen ist schließlich auch Lauras Schicksal aufgehoben und integriert. Ihr schweigsamer Sitznachbar und Mitfahrer Julio (Rômulo Braga) wird dabei zu ihrem letzten Begleiter.
Immer wieder lenkt Maria Clara Escobars artifizieller Erzählstil die Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen und überschreitet so die Grenzen eines nur scheinbar festgefügten Möglichkeitsraums. Dann gewinnt die Statik ihres Films eine mitunter ungeahnte Dynamik, löst sich die Starrheit der Figuren auf, etwa in einem rasanten, von energiegeladener Punkmusik angetriebenen Lauf, der an die „Modern Love“-Sequenz aus Leos Carax‘ Film „Mauvais Sang“ („Die Nacht ist jung“) erinnert, oder auch in einem wilden Tanz zu einem melancholischen Liebeslied. Am Schluss vereint das vieldeutige, assoziationsreich Filmbild Laura und Israël zu einer Pietà aus Liebe, Leben und Tod, während hinter ihnen eine Hütte in Flammen steht und es offensichtlich außer der Erinnerung fast nichts mehr zu retten gibt.