Am Anfang des Films laufen die Abspanntitel. Bildfüllend in Blockschrift gesetzt, deutet diese visuell auffallende Geste auf ein emphatisches Verständnis von Kino. Gaspar Noé setzt auch in seinem neuen Film „Vortex“ stilistische Ausrufezeichen und inszeniert in einem fortlaufenden Wechsel von Bewegung und Statik symmetrische Bilder von zunehmend kontrastierenden Verhältnissen. Nur tauscht er diesmal die Provokation mit der Einfühlung und widmet sich thematisch der Vergänglichkeit statt seinen bislang bevorzugten Sujets Sex, Gewalt und Rausch. „Für all diejenigen, deren Hirn vor ihren Herzen vergehen wird“, lautet das programmatische Motto des Films. In dessen Mittelpunkt steht ein altes, krankes Paar. Eben haben die beiden auf dem lauschigen Balkon ihrer Pariser Wohnung noch das Leben als Traum gefeiert. Dann singt Françoise Hardy ein trauriges Lied („Mon amie la rose“) über das Vergehen. Bis sich nachts, während sie schlafen, ein schwarzer Balken zwischen die Ehepartner schiebt, sie isoliert und trennt.
Auch die Leinwand ist ab diesem Zeitpunkt in einen Splitscreen geteilt. Fortan verlaufen die Leben der beiden Protagonisten bildlich, aber oft auch räumlich parallel. Die daraus resultierende Gleichzeitigkeit der Bewegungen und Ereignisse oder auch die doppelte, leicht verschobene Perspektive auf die Handlung bewirkt eine ebenso irritierende wie herausfordernde Aufmerksamkeitsverlagerung. Während sich der vom berühmten italienischen Giallo-Regisseur Dario Argento gespielte 80-jährige Filmpublizist der Arbeit an seinem neuen Buchprojekt („Psyche“) über den Zusammenhang von Kino und Traum widmet, irrt seine Frau Stéphane (Françoise Lebrun), eine Psychiaterin, zunächst verwirrt und orientierungslos durch diverse Läden, später durch die labyrinthische, mit Büchern, Papieren und Filmplakaten vollgestopfte Wohnung. Stéphane leidet unter einer sich immer gravierender bemerkbar machenden Demenz. In den dunkelsten Phasen ihrer Verlorenheit spiegelt jeder Handgriff eine tiefe, verzweifelte Verunsicherung und sie erkennt dann weder ihren Mann noch ihren sichtlich betroffenen Sohn (Alex Lutz).
Dieser würde gerne helfen, hat aber als alleinerziehender Drogensüchtiger selbst genügend Probleme. Den Vorschlag, für seine Eltern Plätze in einem Altersheim zu organisieren, wehrt der Schriftsteller trotz seiner Herzkrankheit ab: „Ich werfe meine Vergangenheit nicht weg.“ Und damit meint er die Wohnung mit ihren Büchern und Erinnerungen. Diese wirkt mit ihrer dominanten Materialität, ihrer Lebendigkeit und Aura wie eine dritte faszinierende Mitspielerin mit einer eigenen Geschichte. Schonungslos und genau zeigt Gaspar Noé, wie die Protagonisten seines intensiven, bewegenden Films „Vortex“ in einem schmerzhaften Prozess alles verlieren: sich selbst und den anderen, die Dinge und das Leben. „Ein Zuhause ist nur etwas für die Lebenden“, erklärt der Sohn am Ende seinem kleinen, fragenden Jungen. Dann verschwindet alles und das Bild steht Kopf.