Das Glöckchen, das irgendwo in der Ferne einsam bimmelt, und die verwehenden Mundharmonikaklänge, die mit der Weite der Landschaft zu verschmelzen scheinen, die für den Kinogänger häufig aussah wie eine US-amerikanische, obwohl es tatsächlich oft genug eine in Spanien gewesen ist. Das Klappern der Pferdehufe und das Dengeln der Maultrommel. Die Männer- und die Frauenchöre und das heitere Banjo. Die süßlichen Streicher und die schnurrende, leicht verzerrte Westerngitarre. Die Panflöte und das Nostalgie heraufbeschwörende Cembalo. Und klang da nicht eben sogar etwas wie ein Peitschenknallen? Es gibt Filme, die ihrem Betrachter vor allem in Erinnerung bleiben aufgrund der Musik, mit der sie sozusagen kompakt verschweißt sind und die einem nicht mehr aus dem Kopf geht, die einem in den Ohren klingt, sobald man sich die zugehörigen Filmszenen in Erinnerung ruft: das zuckerwattig anmutende Instrumentalstück „Chi Mai“ etwa, die Titelmusik des Belmondo-Actionkrimis „Der Profi“ (1981); der Soundtrack des Italowestern-Klassikers „Zwei glorreiche Halunken“ (1966); das Panflöten-Titelthema von Sergio Leones Mafia-Epos „Es war einmal in Amerika“ (1984).
In Leones Western-Filmdrama „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), das in epischer Breite die Geschichte einer Rache verhandelt, hat sogar jede der zentralen Figuren ein eigenes musikalisches Leitmotiv zugewiesen bekommen, von denen, neben dem Titelstück, uns jedes einzelne in Erinnerung geblieben ist. Zu dem berühmten, mit viel Hall versehenen Mundharmonika-Motiv schreibt etwa der Film- und Musikwissenschaftler Peter Moormann, es wirke wie „unheimliche Rufe aus einer anderen Welt“. Ennio Morricone, dem diese Musik eingefallen ist, muss demnach viele Szenen des Westerns sehr genau studiert haben, so sollte man meinen.
Tatsächlich aber ist, wie man heute weiß, der komplette Soundtrack komponiert und im Studio aufgenommen worden, bevor der Film gedreht wurde. Der Regisseur, Sergio Leone, habe die Musik „als Stimulans für sich und sein Team“ gebraucht, heißt es in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Und weiter: „Als eines Tages mal keine Schallplatte lief, beschwerte sich sein Hauptdarsteller Henry Fonda. Für diese Szene sei sie nicht nötig, erwiderte Leone. Fonda ließ sich nicht beirren: ›Für mich ist sie nötig. Ich gehe anders, wenn ich sie höre.‹“
Der Italiener Ennio Morricone, der wie sein ihm ebenbürtiger US-amerikanischer Kollege Henry Mancini in den 1920er Jahren geboren wurde – Lalo Schifrin, der dritte große Filmkomponist des 20. Jahrhunderts, kam erst Anfang der 30er Jahre zur Welt -, war nicht nur der „meistbeschäftigte Komponist der Kinogeschichte“ („Die Zeit“) und der „erste Filmkomponist, der auch Geräusche zu komponieren verstand“ („Spiegel“). Er schuf die wohl populärsten Filmscores überhaupt, wodurch er zum Liebling des Kinopublikums wurde.
In den 40er und 50er Jahren hatte Morricone, dessen Vater schon Trompeter war, Trompete und Komposition studiert. Anfangs hatte sein Interesse als Komponist der Neuen Musik und der Moderne seiner Zeit gegolten – er verstand sich als Angehöriger der Avantgarde, doch hatte er zeit seines Lebens auch keine Berührungsangst, was die leichte Muse, Schlager und Populärmusik anging, und arbeitete in den 50ern und 60ern selbst als Arrangeur für Unterhaltungsmusik. Was freilich mehr Geld einbrachte als die brotlose Kunst, der ursprünglich sein Interesse galt.
Erfreulicherweise unterschied er aber nicht zwischen einer, von einem sich elitär dünkenden Bürgertum als wertlos geschmähten, sogenannten Unterhaltungsmusik und einer als wertvoll etikettierten „ernst zu nehmenden“ Musik, der wegen ihrer größeren Komplexität automatisch ein gewisser Tiefsinn zugeschrieben wurde. Zwischen unterbewerteten Paul-Anka-Gassenhauern einerseits und überbewerteter Karlheinz-Stockhausen-Tonkunst andererseits bewegte Ennio Morricone sich ebenso elegant wie entspannt hin und her. Auch darauf ist wohl sein eklektizistisches Kompositionsverfahren zurückzuführen, das sich als gelungene postmoderne Verschmurgelung unterschiedlichster musikalischer Stile beschreiben ließe.
Seine Fangemeinde schätzte Morricones berühmte und tausendfach variierte musikalische Zaubermischung aus sich in die Gehörgänge schmeichelnder Wohlfühlklassik, Stampfrhythmen, Easy-Listening-Melodien und symphonischem, pathetischem Orchestergedonner.
Doch der für seine außergewöhnliche Produktivität bekannte Workaholic, der, wenn es notwendig war, schon mal 20 Filmmusiken im Jahr herstellte, war auch ein Experimentator: In den Strom des vom Streichorchester produzierten Wohlklangs baute er nach Belieben Motive aus der Schlager-, Pop- und Folkmusik der Zeit ein, auch Marschmusikelemente, Atonales, Klopf-, Pfeif- oder Sirrgeräusche, oder er ließ sich von Kirchenchorgesang oder von der Klangwelt der romantischen italienischen Oper anregen. Allerdings tat er all das fast immer auf eine so raffinierte Weise, dass man beim Hören des jeweiligen Musikstücks oder Soundtracks am Ende den Eindruck hatte, es mit einer zwar etwas opulent geratenen, aber organischen Einheit zu tun zu haben.
Morricone soll für mehr als 500 Fernseh- und Kinoproduktionen die Musik komponiert haben, darunter auch Italo-Western und viele sogenannte Giallo-Filme oder Gialli (italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre mit begrenztem Budget, in denen die Themen Sexualität und Gewalt vergleichsweise explizit verhandelt werden).
Vor 16 Jahren begann er, mit seinen Filmkompositionen Welttourneen durch große Mehrzweckhallen zu unternehmen, stets in Begleitung eines stattlichen Orchesters, versteht sich, eine Beschäftigung, mit der er bis ins sehr hohe Alter fortfuhr. Da saß er dann, vor 8000 oder 10 000 Menschen, und schwenkte, halb auf seinem Stühlchen sitzend, halb sich daran anlehnend, den Taktstock zu seinen eigenen Kompositionen.
„Wenn Sie all die Filme, an denen ich mitgearbeitet habe, durchgehen“, so Morricone einmal, „dann werden Sie verstehen, wie ich zum Spezialisten für Westernfilme, Liebesfilme, politische Filme, Actionthriller, Horrorfilme usw. geworden bin. Soll heißen: Ich bin kein Spezialist, denn ich habe alles gemacht. Ich bin ein Spezialist, was Musik betrifft.“
Zweimal erhielt er den begehrten Oscar: einen 2007, als späte Ehrung seines Lebenswerks, und einen 2016, für die Musik zu Quentin Tarantinos Western-Kammerspiel „The Hateful Eight“. Am Montagmorgen ist der Komponist im Alter von 91 Jahren in Rom verstorben.
Dieser Text erschien zuerst am 06.07.2020 in: Neues Deutschland