Gesellschaft ist gefährlich. Das spürt man auf jeder Seite in Tillie Waldens gewaltigem Comicwerk. Man weiß nie, wann die destruktiven Kräfte vollends entfesselt werden, aber meist liegt etwas Unheilvolles in der Luft. Die 1996 geborene Texanerin agitiert nicht in ihren Comics, es geht selten manifest politisch zu. Und doch erzählt jedes Werk vom gesellschaftlichen Druck, der die Figuren zu Entscheidungen und Handlungen drängt, deren Tragweite ein Weitermachen unter den bisherigen Bedingungen unmöglich macht. Waldens Protagonistinnen leben und lieben in Angst, und die Liebe ist zugleich der Lichtblick hinter der poetischen Melancholie der Bilder. Es lohnt sich durchzuhalten, aber in dem Durchhaltewillen steckt bereits der ständige Kampf zwischen Macht und Ohnmacht, und die Figuren laufen auch Gefahr, unter die Räder zu geraten.
Tillie Walden ist 23 Jahre jung, und in ihr muss ein immenser Erzähldrang toben. Für ihr Debüt, die von Hayao Miyazaki inspirierte Phantastikstory „The End of Summer“ von 2016, gab es gleich den Ignatz Award. Es folgten einige kurze Comics, unter denen „I Love this Part“ heraussticht: eine traurige Liebesgeschichte zweier Mädchen, die das Versteckspiel an der High School nicht durchhalten. Die Verbindung endet, auch weil die Furcht vor der eigenen Homosexualität zu groß wird, und auf stets einem Panel pro Seite sehen wir die Erinnerungsorte ihrer gemeinsamen Vergangenheit.
Waldens 2017 veröffentlichte, 400 Seiten fassende autobiografische Graphic Novel „Spinning“ (auf Deutsch später unter dem Titel „Pirouetten“ erschienen) gewann 2018 den Eisner-Award, den wichtigsten US-Comic-Preis, für den ein Jahr zuvor schon ihr Webcomic „On a Sunbeam“ nominiert war. Letzteren, eine Science-Fiction-Love-Story, die sich durch das Genre mit queerfeministischer Attitüde arbeitet, hat Walden mit Uhrwerkspräzision kapitelweise innerhalb eines Jahres online gestellt. Er kann nach wie vor for free gelesen werden, obwohl First Second Books, ein Verlag der Holtzbrinck-Gruppe, ihn Ende 2018 als über 500seitigen Trumm auf den US-Buchmarkt geworfen hat.
2019 kam, auch in deutscher Übersetzung, mit „West, West Texas“ (im Original „Are You Listening?“) ein 300 Seiten starker Roadtrip in einen imaginären Twin-Peaks-Westen heraus. Der Klappentext verrät, dass Walden gern um acht Uhr abends zu Bett geht. Funktionieren ohne Wenn und Aber scheint die oberste Direktive ihrer Kindheit zu lauten, die Folgen entfaltet sie in ihrer eigenen Coming-of-Age- und Coming-out-Geschichte „Pirouetten“. Waldens Teenagerleben hält der Drill des Eiskunstlaufens fest im Griff: Training vor und nach der Schule, Wettbewerbe, Anpassungs- und Konkurrenzdruck. Desinteressierte (Mutter) wie gutgläubige (Vater) Eltern zwingen sie zur Flucht in die Sprachlosigkeit, von der die erste Liebe wenigstens eine Pause verspricht: „Ich erinnere mich nicht an Schmetterlinge oder ein Gefühl von Freiheit, sondern nur an Angst. Angst, weil ich lesbisch war. Angst, weil wir in Texas waren. Angst vor all dem Hass, den ich aus Youtube-Videos kannte und von dem ich wusste, dass er real war. Aber von meiner Angst, die sich wie ein Eisklumpen in meinem Magen zusammenballte, würde ich mich nicht unterkriegen lassen.“
„West, West Texas“ könnte die informelle Fortsetzung von „Pirouetten“ sein, eine erste zaghafte Lektion in Empowerment, die die zwei Hauptfiguren auf die Straßen der texanischen Landschaft führt. Die eine, Bea, ist gerade 18 geworden und haut von Zuhause ab, die andere, die 27jährige Lou, will ihre Tante auf dem Land besuchen und nimmt Bea kurzerhand mit, als sie sich zufällig auf einer Tankstelle begegnen. Unausgesprochen wissen beide, dass man sich nicht die ganze Wahrheit offenbart.
Der Comic ist kein brachiales Road Movie, das die genreimmanente Outlaw-Romantik aufmöbelt, vielmehr eine stille Reise durch die Americana-Topografie. Die latente Tragik hinter diesem gemeinsamen Aufbruch will zwischen den Zeilen in den lakonischen Gesprächen zwischen Bea und Lou registriert werden. Als sie eine entlaufene Katze mitnehmen, um das Tier zum Besitzer ins nirgends verzeichnete West, West Texas zu bringen, entwickelt sich der Trip endgültig zur Seelenlandschaftsodyssee mit David-Lynch-Appeal. Blutrote Wolken drücken vom Himmel herab und verschlingen die Straßen, einsame Hütten hängen vertikal an bebenden Felsen, und zwei unheimliche Männer vom Verkehrsamt für Fernstraßenverwaltung mit merkwürdigem Interesse an der Katze treten als Verfolger auf den Plan. Schließlich entpuppt sich die immer beklemmendere Landschaft als – womöglich – surrealistische Traumaarchitektur und Metapher für eine verletztliche Identität.
Feministische Comics sind derzeit ziemlich gefragt, meist aber in Gestalt von Autobiografien oder Sachcomics. Tillie Walden, die offenbar jedes Genre mit feministischem Bauplan neu zusammenzusetzen versteht und in solch jungen Jahren ein Ouevre hervorgebracht hat, auf das andere Künstler als Lebenswerk stolz wären, ist ein, mit Verlaub, genialer Branchen-Solitär, der später mal, so die Welt durchhält, die Klassikerabteilung am Leben erhalten wird.
Dieser Beitrag erschien zuerst in: KONKRET 02/2020
Tillie Walden (Autorin und Zeichnerin): „West, West Texas“.
Aus dem Englischen von Barbara König. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro